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Marx, Moses und die Heiden in der Offenen Stadt (1) Sleipnir ( Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik, Heft 2. März /April, 1995)

Mit der Bekehrung des römischen Kaisers Konstantin zum Christentum neigte sich die Epoche des heidnischen Europa ihrem Ende entgegen. Im Laufe des folgenden Jahrtausends wurde der gesamte europäische Erdteil der Herrschaft des Evangeliums unterworfen - bisweilen durch friedliche Überzeugungsarbeit, oft aber durch gewaltsame Bekehrung. Die noch gestern die Verfolgten des Alten Rom gewesen, wurden nun ihrerseits im christlichen Rom die Verfolger. Wer noch zuvor das ihm von Nero, Diocletian oder Caligula bereitete Schicksal beweinte, zögerte jetzt nicht, mit „kreativer" Gewalt gegen gottlose Heiden vorzugehen. War Gewaltanwendung nach dem Buchstaben des christlichen Gesetzes auch untersagt, wurde sie doch hemmungslos ausgeübt gegen jene, die nicht in die Schar der „auserwählten Kinder" Gottes hineinpaßten. In der Regierungszeit Konstantins nahm die Verfolgung der Heiden Formen an, die denjenigen, mit denen früher die alten Glaubensgemeinschaften die neuen verfolgt hatten, nicht nur vergleichbar waren, sondern sie in ihrer Unerbittlichkeit noch übertrafen.1 Durch das Edikt von 346 n.Chr. und das zehn Jahre später erlassene Edikt von Mailand wurden Heidentempel und die Verehrung heidnischer Gottheiten als magnum crimen gebrandmarkt. Über alle, die schuldig befunden wurden, an althergebrachten Opferritualen teilgenommen oder heidnischen Götzen angebetet zu haben, wurde die Todesstrafeverhängt. „Unter Theodosius unternahm die Verwaltung eine systematische Anstrengung, die verschiedenen Formen des Heidentums durch Auflösung, Enteignung und Ächtung der noch vorhandenen Kultgemeinden zu beseitigen."2 Das „Finstere Frühmittelalter" hatte begonnen.

Die Gewalttätigkeit der Christenheit ad maiorem dei gloriam wütete nach außen und innen ungebremst bis zum beginnenden achtzehnten Jahrhundert. Neben gotischen Kirchtürmen von atemberaubender Schönheit bauten die christlichen Machthaber Scheiterhaufen, auf denen namenlose Tausende hinweggerafft wurden. Rückblickend läßt sich christliche Intoleranz gegen Ketzer, Juden und Heiden mit der bolschewistischen Intoleranz des zwanzigsten Jahrhunderts gegen klassenfeindliche Kräfte in Rußland und Osteuropa vergleichen; jedoch mit einem Unterschied: ihre Herrschaft währte länger. In der Abenddämmerung des römischen Kaiserreiches kommentierte der heidnische Philosoph Celsus den christlichen Fanatismus: „Sie (die Christen) wollen über ihren Glauben nicht rechten, sie beharren auf ihrem 'Nicht prüfen sollst du, du sollst glauben'...3 *" Gehorsam, Gebet und Verzicht auf kritisches Denken galten den Christen als die perfekten Schlüssel zur ewigen Seligkeit. Celsus beschreibt die Christen als Menschen, die zu engstirniger Parteilichkeit und primitivem Denken neigen und darüber hinaus eine bemerkenswerte Lebensverachtung an den Tag legen.4 In ganz ähnlichem Sinne äußerte sich im neunzehnten Jahrhundert der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche, der in seinem beißenden Stil die Christen als Menschen schildert, die den Haß auf sich selbst und auf andere hervorkehren: „...der Haß gegen die Andersdenkenden; der Wille zu verfolgen".5

Zweifellos müssen die Frühchristen fest daran geglaubt haben, daß das Ende der Geschichte sich deutlich am Horizont abzeichne, und mit ihrem historischen Optimismus dürften sie sich ebenso wie mit der Gewalt gegen die „Ungläubigen" die Bezeichnung Bolschewiken des Altertums verdient haben. Viele Autoren haben darauf hingewiesen, daß das Römische Reich nicht durch den Ansturm der Barbaren zerbrach, sondern daß Rom bereits „von innen her verrottet (war) durch christliche Sekten, Verweigerer des Kriegsdienstes, Feinde des Staatskultes, Verfolgte und Verfolger, kriminelle Elemente aller Art sowie das allseitige Chaos."6 Paradoxerweise sollte sogar den jüdischen Gott Jahwe ein düsteres Schicksal ereilen, denn er wurde, nach den Worten Louis Rougiers, „bekehrt, wurde Römer, Kosmopolit, zur Ökumene übergelaufener Nichtjude oder goyim, Globalbekenner und zuletzt gar - Antisemit."7 Es ist nicht verwunderlich, daß sich in den folgenden Jahrhunderten die christlichen Kirchen Europas schwertaten, ihre universalistische Berufung mit dem Aufstieg des nationalistischen Extremismus in Einklang zu bringen.

Obwohl das Christentum allmählich auch die letzten Spuren der römischen Vielgötterei beseitigte, setzte es sich doch selbst als Roms rechtmäßigen Erben ein. Und in der Tat kam es keineswegs zu einer vollständigen Verdrängung des Heidnischen durch das Christentum: Dieses ererbte von Rom viele Merkmale, die es vormals als antichristlich verachtet hatte. Mit den offiziellen heidnischen Kulthandlungen war es vorbei, der Geist des Heidentums jedoch ließ sich nicht bannen und trat jahrhundertelang immer wieder in verblüffenden Ausdrucksformen und vielgestaltigen Modeerscheinungen zutage - so in den Zeitaltern der Renaissance und der Romantik, vor dem Zweiten Weltkrieg und auch heute, da die christlichen Kirchen erkennen müssen, daß ihre verweltlichten Schafe ihren einsamen Hirten immer schneller davonlaufen. Schließlich scheint das Volksbrauchtum ein Paradebeispiel für das Weiterleben des Heidnischen darzustellen, obwohl es in den Gebräuchen der Offenen Stadt inzwischen meist nur noch als leicht verderbliche Ware des kulinarischen und touristischen Rummels dargeboten wird.8 Im Laufe der Jahrhunderte war das Volksbrauchtum stets den Wandlungen und Anpassungen, den Forderungen und Sachzwängen der jeweiligen Epoche unterworfen, und doch hat es seine Urform eines stammeseigenen Gründungsmythos immer beibehalten. So wie das Heidnische sich stets stärker auf dem Dorfe behauptete, so ist auch das Brauchtum in der Überlieferung der bäuerlichen Bevölkerung Europas durchweg am sichersten bewahrt worden.9 Im frühen neunzehnten Jahrhundert begann das Brauchtum in dem sich herausbildenden nationalen Bewußtsein der europäischen Völker eine entscheidende Rolle zuspielen, „in einer Gemeinschaft" also, „die sich um ihre arteigenen Ursprünge sorgte, und basierend auf einer Geschichte, die meist eher rekonstruiert denn real zu nennen ist".10

Der heidnische Gehalt war ausgeräumt, aber der heidnische Rahmen blieb im wesentlichen unverändert. Gehüllt in den Mantel und die Aura der christlichen Heiligen, schuf sich das Christentum sein eigenes Pantheon der Gottheiten. Darüber hinaus nahm selbst die Botschaft Christi - je nach Ort, Geschichtsepoche sowie dem genius loci jedes einzelnen europäischen Volkes - eine ganz spezifische Aussage für sich in Anspruch. In Portugal stellt sich der Katholizismus anders dar als in Mozambique, und Polens Landbevölkerung verehrt noch heute viele der alten slawischen Gottheiten, die sorgfältig in die römisch-katholische Liturgie eingewoben sind. Im ganzen heutigen Europa tritt immer wieder das nur scheinbar auslöschbare Gepräge des polytheistischen Glaubens an die Oberfläche. Das Begehen des Julfestes stellt eines der hervorstechendsten Beispiele für die Zählebigkeit heidnischer Relikte dar.11 Auch wurden zahlreiche einst heidnische Tempel und Kultstätten in sakrale Einrichtungen der katholischen Kirche umgewandelt. Lourdes in Frankreich, Medjurgorje in Kroatien, heilige Flüsse oder Berge - tragen sie nicht alle den Stempel des vorchristlichen, heidnischen Europa? Der Kult der Muttergöttin, dem einst die Kelten, besonders in Flußnähe, inbrünstig huldigten, hinterläßt noch heute seine Spuren in Frankreich, wo in der Nähe von Brunnen und Quellen viele kleine Kapellen errichtet wurden.12 Und können wir schließlich die Tatsache bestreiten, daß wir alle die intellektuellen Erben der heidnischen Griechen und Lateiner sind? Denker wie Virgil, Tacitus, Heraklit sind noch heute so modern, wie sie es in der Morgendämmerung der europäischen Kultur waren.

Es gibt reichlich Belege dafür, daß heidnisches Lebensgefühl in den Sozialwissenschaften, der Literatur und den Künsten hell erblühen kann, und das nicht nur als exotische Darstellungsform, sondern auch als geistiges Rüstzeug und als Instrumentarium der Begriffsanalyse. Wenn wir über die Wiederbelebung des indogermanischen Polytheismus sprechen, drängen sich zahlreiche Namen auf. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts traten heidnische Denker gewöhnlich in einer Maske auf, indem sie sich als „revolutionäre Konservative", „aristokratische Nihilisten" oder "Elitäre" bezeichneten, kurz, unter dem Namen all derer, die nicht Jesus durch Marx ersetzen wollten, die aber Marx und Jesus ablehnten.13 Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger in der Philosophie, Carl Gustav Jung in der Psychologie, Georges Dumezil und Mircea Eliade in der Anthropologie, Vilfredo Pareto und Oswald Spengler in der politischen Wissenschaft, ganz zu schweigen von Dutzenden Dichtern, wie Ezra Pound, Jack London oder Charles Baudelaire - dies sind nur einige der Namen, die zum Vermächtnis des heidnischen Konservatismus in einer engen Beziehung stehen. Ihnen allen gemeinsam war der Wille, das Erbe des christlichen Europa zu überwinden, und sie alle strebten danach, die Welt der vorchristlichen Kelten, Slawen und Germanen in das Repertoire ihres Geistes einzugliedern.

In dem von der biblischen Botschaft durch und durch erfüllten Zeitalter wurden viele der modernen heidnischen Denker wegen ihrer Kritik am biblischen Monotheismus angegriffen und entweder als verstockte Atheisten oder als geistige Bannerträger des Faschismus gebrandmarkt. Attackiert wurden insbesondere Nietzsche, Heidegger und erst unlängst der französische Philosoph Alain de Benoist, weil er angeblich einer Philosophie huldige, die an frühere nationalsozialistische Versuche einer Entchristianisierung Deutschlands und seiner Rückführung ins Heidentum erinnere.14 Diese Angriffe erscheinen unberechtigt. Jean Markale weist daraufhin, daß „es sich bei Nazismus und Stalinismus - wegen der von ihnen ausgelösten Handlungen - in gewissem Sinne ebenfalls um Religionen handelte. Sie waren auch insofern Religionen, als sie ein bestimmtes Evangelium - im etymologischen Wortsinne - beinhalteten... Demgegenüber tendiert wahres Heidentum immer in die Sphäre der Sublimation. Heidentum kann nicht im Dienste weltlicher Macht stehen."15 Das Heidentum erscheint mehr als eine Form des Lebensgefühls denn als ein vorgegebenes politisches Glaubensbekenntnis.

Fußnoten


  1. Charles Norris Cochrane, Chrisitanity and Classical Culture, University Press. York 1957. S. 254 a. 

  2. a. O., S. 329 

  3. T. R. Gloverr. The Conflict of Religion in the Early Roman Empire, Beacon Press, Boston 1909 u. 1960 

  4. S. 254 und passim 

  5. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, Nietzsches Werke, Verlag Das Bergland-Buch, Salzburg, Stuttgart 1952. S. 983, Abs. 21. 

  6. Pierre Gripari, L'histoire du méchant dieu. L'Age d'Homme. Lausanne 1987, S. 101-102. 

  7. a.a.O., S. 102. 

  8. Michel Marmin, "Les pièges du folklore, in; La cause des peuples, Edition Le Labyrinthe, Paris 1982, S. 39-44. 

  9. Nicole Belmont, Paroles païennes. Edition Imago, 1986, S. 160. 

  10. a. a. O., S. 161 

  11. Alain de Benoist, Noël. Les Cahiers européennes, Institut de documentations et d'Etudes européennes, Paris 1988. 

  12. Jean Markale, u. a.. „Mythes et lieux christianisées". L'Europe païenne, Seghers, Paris 1980. S. 133. 

  13. Bezüglich der europäischen Revolutionär- Konservativen siehe die Studie von Armin Möhler Die Konservative Revolution in Deutschland 1919- 1933, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972; ferner Tomislav Sunic. Against Dcmocracy and Equality: The European New Right, Peter Lang Publishing Inc., New York 1990. 

  14. Vgl. hierzu vor allem die Schriften von Alfred Rosenberg. Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Hohenzeichen Verlag, München 1933). Erwähnenswert ist ferner Wilhelm Hauer, Deutsche Gottschau. Karl Guctbrod, Stuttgart 1934, der bezeichnenderweise die indogermanische Mythologie in nationalsozialistischen Kreisen popülär machte. Siehe S. 240-254 des genannten Werkes, in denen Hauer den Unterschied zwischen jüdisch- christlich-semitischen Glaubensinhalten und dem europäischen Heidentum erläutert. 

  15. Jean Markale, „Aujourd'hui, l'esprit paien?", in L'Europe Paienne, Seghers. Paris 1980, S. 15. Das Werk enthält Betrachtungen über das slawische, keltische, lateinische und griechisch-römische Heidentum.