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DIE AULA (November 2012), Kroatiens Schutzheilige; Das Haus Habsburg und der neue Reichsgedanke

Dr. T. Sunic (www.tomsunic.com) ist Schriftsteller und ehemaliger US Professor für Politikwissenschaft, sowie Vorstandsmitglied der A3P, USA. Dieser Aufsatz ist die Kurzfassung des Vortrags, den der Verfasser für die Herren des St. Georgs- Ordens unter Schirmherrschaft Kar von Habsburg in Varaždin, Kroatien, am 29.9. 2012 hielt. Das Wort „Reich“ oder „Reichsgedanke“ ist heute ein Schimpfwort geworden. Nach der neuen politisch-korrekten Sprachregelung lösen diese Worte bei den BRD- oder Österreich-Politikern ein ungutes Gefühl aus. Wenn man das weiter denkend zugespitzt ausformulieren wollte, können wir auch die deutsche Sprache als zu dem Abfall zählend entsorgen. Das Wort Reich erinnert viele Leute, besonders in Amerika, aber auch in England an etwas unheilvolles, bedrohliches, an einen sprichwörtlichen Hitler -- und an das Dritte Reich. Aber die Reichsidee hat eine tausendjährige Geschichte und diesem Worte begegnete man auch in der Weimarer Republik und in der Nachkriegs-BRD. Eigentlich könnte man sagen, dass die EU auch manche Züge des Heiligen Deutschen Reiches trägt, oder zumindest hätte tragen sollen.

Aber die Reichsidee ist auch eine Frage der Identität. Diese Idee war lange Zeit gleichwohl auch – im Übertragenen Sinne – ein Schutzheiliger der Mitteleuropäer. Dennoch sind die Wörter „Identität“ oder „Reichsidee“ nicht sehr angemessen für tiefere gesellschaftliche Analysen, da diese Worte mehrdeutig sind und auch falsche Bedeutungen einschließen können.

Im Mitteleuropa von gestern, während der Donaumonarchie im Heiligen Deutschen Reich hatte jede Stadt, jedes Dorf, jeder Stand seinen jeweiligen Schutzheiligen der jeden Bauer, jeden Bürger, jeden Ritter mit Mut oder Macht versorgte. Die Schutzpatrone im heutigen Europa sind nicht mehr die Heiligen wie Sankt Georg, oder Sankt Michael oder Sankt Isidor, sondern vielmehr Fußballspieler, Filmemacher, Hollywoodstars -- oder die europäischen Zentralbankspekulanten. Das hat Oswald Spengler treffend schon vor einhundert Jahren vorausgesagt, nämlich dass die wurzellosen Bürger Europas immer eine „zweite Religiosität“ gebrauchen. Anstelle der alten Identitäten werden jetzt neue Schutzheilige bzw. “Götzen“ verehrt. Weiterhin schreibt Spengler: “Dem entspricht in der heutigen europäisch-amerikanischen Welt der okkultistische und theosophische Schwindel, die amerikanische Christian Science, der verlogene Salonbuddhismus, das religiöse Kunstgewerbe.. (..)“. Solchen „zweiten Religiositäten“ bzw. „Ersatzschutzheiligen“ begegnet man heute überall in Europa. Unsere neuen Schutzheiligen sind die Abbildung einer Gesinnung die aus Amerika stammt, und die sich in einem besonderen politischen Moralismus und der Schönrederei manifestiert. Die amerikanische politische Klasse und ihre eifrigen Nachahmer in der EU stellen sich heute als neue Schutzheiligen einer neuen Art von Weltverbesserung vor.

Reichsidee als Chance. Die Belebung der Reichsidee kann das beste Mittel für europäische Völker heute sein. Sie kann ein gutes Mittel gegen wurzellosen Globalismus und gegen Chauvinismus sein. In Osteuropa ist die interethnische Lage weiterhin gespannt. Hier sind manche Beispiele. Die nationale Identität eines polnischen Nationalisten, der sonst über alle Themen mit seinem Kollegen aus Deutschland übereinstimmen kann, wie z.B. ihre gemeinsame Globalismus-Kritik oder ihr Antikommunismus, oder Antikapitalismus, ist oft gerade in seinem Antideutschtum verankert. Ein Drittel der Ungaren, bzw. mehr als 2 Millionen Menschen, leben in der Slowakei, Serbien und Rumänien und ihre nationale Identität wird oft durch ihre Ablehnung der Nachbarvölker behauptet. Trotz eines Scheinfriedens zwischen Serben und Kroaten haben diese benachbarten und ähnlichen Völker zwei völlig verschiedene historische Erzählungen und zwei völlig gegenseitig feindliche Opferlehren. Kurz gesagt, die Serben und Kroaten weisen trotz ihrer erstaunlichen Ähnlichkeit zwei sich radikal und gegenseitig ausschließende Identitäten auf. Für einen kroatischen Nationalisten ist es schwer, „ein guter Kroate“ zu werden, ohne sich zuerst als „guter Anti-Serbe“ zu beschreiben.

Nach dem Zerfall des Hauses Habsburg kam die Reichsidee in 1918 zu ihrem Ende. Aber das Zeitalter des ewigen Friedens trat nicht ein. Ganz im Gegenteil. Der Zeitverlauf des 20.ten Jahrhunderts, dieses Mal auch ohne Habsburger, geriet gleich in den fünften Gang. 1945 war eine biologische Katastrophe für das kroatische Volk aber auch für unzählige deutschstämmige Bürger Kroatiens, die diese Gebiete während des Kaisers Leopold und der Kaiserin Maria Theresa besiedelt hatten. Eine zeitlose aber nutzlose Konjunktivfrage: Was wäre geschehen, wäre die Donaumonarchie nicht zusammengefallen? Was würde Prinz Eugen zur heutigen Lage in Wien sagen?

Der Sankt Georgs -Orden hatte im 14. Jahrhundert das Erbe der Kreuzritter gegen die Andersgläubigen, die damals nach Mitteleuropa hineinrasten, übernommen - nicht um die Menschenrechte oder die Integration zu predigen, sondern um ihre eigenen Werte, ihre eigene Religion den Europäern aufzuerlegen. Damals waren die Sankt Georgs- Ritter nicht die Menschenverbesserer die eine Multikulti-Vielfalt predigten, vielmehr mussten sie sich gegen die herrschende Türkengefahr wehren. Hätte der Orden des Heiligen Sankt Georg den Pazifismus gepredigt, würde Varaždin heute ganz anders aussehen. Im jenem Ernstfall bedeutete „Leben heißt töten“ -- wie der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger einst schrieb, oder noch treffender formuliert, „ein freier Mann ist ein Kämpfer“, wie Nietzsche einst schrieb, und auch wie die kroatischen Freiwilligen vor 20 Jahren während der Verteidigung in ihrem Unabhängigkeitskrieg gezeigt haben.

Reich ungleich Empire. Die Idee des Reiches hat nichts gemeinsam mit dem Begriff des Imperiums, dem wir in der Geschichte Frankreichs und Englands begegnen. Und deswegen ist das Wort Reich unübersetzbar und seine politische Anwendung sollte nicht mit dem englischen, bzw. französischem Worte „Empire“ verwechselt werden. Zentralismus hatte immer eine große Rolle in der Entstehung des französischen Empires gespielt – und später in der Geburt des modernen Nationalismus. Das war nie der Fall im Habsburgerreich, wo die vielvölkischen, übernationalen und föderativen Strömungen jahrhundertlang das leitende Prinzip der Regierenden waren.

Die Reichsidee schließt den rabiaten Nationalismus aus und findet im Gegensatz dazu sein Hauptziel nur in der Vielfältigkeit seiner Reichsvölker begründet. Im Rückblick sehen wir das katastrophale Erbe der Nationalstaaten, die uns in den letzten einhundert Jahren verheerende Bürgerkriege, falsche Nationalmythen, ständige territoriale Auseinandersetzungen, Landräuberei und Kleinstaaterei hinterlassen haben. In einer idealen jedoch möglichen europäischen Zukunft, sollte die Wiederherstellung des europäischen Reiches in Mitteleuropa unsere einzige Lösung sein. Damit würden die verfeindeten europäischen Völker, wie etwa Serben und Kroaten, Ungarn und Rumänen, Slowaken und Tschechen, oder Polen und Deutsche ihre nationale und territoriale Souveränität behalten, ihre einzigartige Identität weitererhalten, und ihre geistigen Ansprüche am besten verwirklichen.

Aber jede erneute Reichsidee setzt bedingungslos eine neue Wertehierarchie voraus, die ganz im Gegensatz zu der heutigen liberalistischen Wertegemeinschaft steht. Im heutigen egalitären, ökonomistischen System, wo das Geld regiert, und wo die Gleichmacherei der Individuen und Kulturen die leitende Rolle spielt, kann die Reichsidee nicht funktionieren. Reich bedeutet nicht nur einen geopolitischen Großraum, sondern vielmehr eine geistige und transzendentale Pflicht für ihre Bürger.

Otto von Habsburg war ein großer Befürworter der Reichsidee, aber auch der EU – sehr wohl war er dennoch, auch ein scharfer Kritiker der EU. Von ihm sollten heute viele Eurokraten etwas lernen. Kurz vor seinem Tode hat sich der Kronprinz Otto von Habsburg mehrere Male kritisch gegenüber den Eurokraten geäußert. In einem Interview in der Bild-Zeitung vom 27.Juni, 2007 sagte er: „Nehmen Sie unsere Bürokratensprache. Das ist eine eigene Sprache, die kein Mensch versteht. Kein normaler Mensch versteht einen Brief von einer (EU) Behörde. Von Kaiserin Maria Theresa gibt es den schönen Satz: `Ein Gesetz ist erst dann gültig, wenn selbst der letzte Schweinehirte in Galizien es verstehen kann.’ “

An Stelle Galiziens kann man heute das Wort „Kroatien“ einsetzen. Es ist auch gar kein Zufall, dass gegenwärtig halbherzige, kroatische Diplomaten kein Wort Deutsch sprechen, sondern sich mit ihren österreichischen oder ungarischen Homologen auf gebrochenem Englisch unterhalten sollen. Das ist ein langer Weg von der diplomatischen Akademie, von Maria Theresa gegründet, ganz zu schweigen von den mehrsprachigen Kaisern und Feldherren wie Karl V, Prinz Eugen, oder Otto von Habsburg. Diese Leute waren echte Europäer im Gegensatz zu jetzigen Brüsselern oder Agramer Bürokraten.

Was heißt die Reichsidee für das kroatische Volk heute? Gar nichts. Viele haben gar keine Ahnung davon. Um von den Euro-Kommissaren gute Zeugnisse für ihr politisch korrektes Benehmen zu bekommen, bemühen sich die aktuellen kroatischen Politiker den öffentlichen Diskurs auf Linie zu halten. Die benutzen leere Worte, wie „Globalismus“, „Multikulturalismus“, „EU-atlantische Integration“, ,‚Transparenz“ oder „Freie Marktwirtschaftsdemokratie“ -- ohne zu wissen was diese Worte bedeuten. Die meisten kroatischen Politiker heute sind sowieso vom Kommunismus kontaminiert. Kurz vor dem Zerfall Jugoslawiens redeten sie über die Ewigkeit des Titoismus. Jetzt dozieren sie über die ewige EU und von der liberalen Demokratie. Eine neue Form der Mimikry, eine neue Form des Gesinnungsterrors ist entstanden, sehr ähnlich der Mimikry im Ex –Jugoslawien, nur mit andern Worten.

EU ähnelt Jugoslawien. Auch die EU-Kommissare haben gute Kumpane in den kroatischen Post-Kommunisten gefunden. Sie waren aber schon echte Freunde während der Tito-Zeit, als Tito für viele westliche Meinungsmacher und Politiker als der große Suchuzpatron der Jugo-Völker galt. Die beiden Seiten heute, ob im Osten, ob im Westen, beharren auf der Erhaltung der EU, weil dieser überstaatliche Apparat sehr stark Ex-Jugoslawien ähnelt und vermeintlich am besten die gemeinsame „Unpolitik“ der EU, besonders im Bereich der Transferunion deckt. Ja die Deutschen und die Michels sollen immer wieder zahlen!

Der Zusammenbruch Jugoslawiens, und der Krieg auf dem Balkan, und der Extremnationalismus ebenso waren eine logische Folge des Mangels an der Reichsidee. Die Fehlgeburt, das sogenannte Jugoslawien, wurde 50 Jahre hindurch finanziell vom liberalen Westen und vom kommunistischen Terror abgeschirmt und abgesichert. Ähnlich wie ihre Vorgänger haben die heutigen kroatischen Eliten einen soliden Pedigree aus kommunistischen Systemzeiten. Trotz ihrer ultra-liberalen Phraseologie können sie heute kaum ihre kommunistische Gesinnung verbergen. Ihre volkslose Morphologie, obgleich in verschiedenen Modifikationen jetzt eingepackt, kann man täglich in Kroatien beobachten.

Das Reich damals und ganz besonders seine grenzgängigen Randvölker wie Kroaten, waren vom 15. bis zum 19.Jahrhundert nicht gerade ein Spaßplatz, wo man nackt an einen kroatischen Strand gehen konnte und sich 24 Stunden am Tag zu Tode soff. Der ganze Großraum von Kärnten bis nach Mazedonien war ein Schreckensplatz, dort wo man militärisch sein Lebenstalent ausüben musste. Mit den Worten „Renner und Brenner“ bezeichneten damals die Reichsbürger Kärntens die Türkenhorden, die es fast bis zu den Alpen und fast bis Venedig schafften. Übrigens wäre es eine gute Idee die heutigen deutschen Diplomaten in Zagreb als Schutzpatrone zum Ausgraben der deutsch-österreichischen Landser zu engagieren. Jene wurden von den Jugo-Kommunisten im Sommer 1945 ermordet und ihre Knochen liegen noch immer hinter dem Hotel „Imperijal“ der Stadt Rab, auf der kroatischen Insel Rab.

Aber die Reichsidee in Mitteleuropa kann so lange nicht belebt werden, bis das ganze Europa sich geistig und psychologisch am kommunistischen und liberalistischen Erbe weiternährt. Trotz des Zusammenbruchs des Kommunismus im gesamten ost- und mitteleuropäischen Raum ist es noch immer unmöglich, einen ehemaligen jugoslawischen Kommissar vor Gericht zu bringen. Nicht ein einziger Altkommunist im heutigen Kroatien wurde wegen der Teilhabe an Verbrechen gegen das kroatische Volk zur Rechenschaft gezogen.

Im Zusammenschluss kann man sagen, dass die Reichsidee die beste Lösung für die verfeindeten europäischen Völker anbietet. Aber auch die beste Lösung zur Erhaltung unserer Identität. Die Reichsidee und die Sankt- Georgs-Ritter beriefen sich während ihrer Geschichte nicht auf chauvinistische oder multikulturelle, oder von Selbsthass getriebene Projekte, die heute inmitten der heutigen politischen Klasse Europas gängig sind.

Aus völkerrechtlicher Sicht hat Kroatien wenig mit seiner Selbstständigkeit erreicht. Das Land ist heute geistig krank, halb-souverän und man sollte sich 20 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung und 16 Jahre nach dem Kriege fragen, was die Kroaten mit ihrer Unabhängigkeit überhaupt erzwungen haben. Kroatiens Souveränität wird heute so oder so nicht in Belgrad, sondern in Brüssel und Washington ausgeübt.

Viele Parallelen gibt es zwischen Deutschland Österreich und Kroatien. Geographisch ist Kroatien wie auch Transsylvanien ein Land des Donau-Beckens, das völlig von dem mitteleuropäischen Geist durchgedrungen ist. Es ist vor allem die Reichsidee, die die Kroaten bis heute am Leben erhalten hat. In den Augen der Kroaten sind Österreich und Deutschland nicht nur die wichtigsten Länder Europas, sondern die Verkörperung Europas schlechthin. Ein kleines zwischeneuropäisches Volk, wie die Kroaten, oder Slowaken wird nie eine große Rolle in der Politik spielen. Alles was sich in Berlin oder in Wien abspielt, wird sich am folgenden Tage in Kroatien abspielen. Und das war immer so in der Geschichte Kroatiens.

Für Kroaten, Serben, Deutsche, Ungarn, Rumänen, Slowaken und andere Mitteleuropäer liegt indes der einzige Weg zur Souveränität im Verlassen des Provinznationalismus, so wie in der Abwerfung eines abstrakten Globalismus. Das Ziel aller Kroaten und aller Mitteleuropäer sollte vielmehr die gemeinsame Behauptung der Reichsidee sein.

DIE AULA(November 2012)

Entkommunifizierung Das undurchführbare Projekt in Kroatien http://www.neue-ordnung.at/ Neue Ordnung (Graz), IV/2012

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der kommunistischen Gewaltherrschaft gab es ein weitverbreitetes Bedürfnis nach einer Entkommunifizierung des öffentlichen Lebens in großen Teilen der Bevölkerung Osteuropas. Bürger, die früher Opfer des Kommunismus in Osteuropa waren, verwenden das Wort ‚lustracija’ – eine lateinische Ableitung, die häufig falsch ins Englische als ‚lustration‘ [dt. Reinigung] übertragen wird, die allerdings nicht jene Konnotation einer politischen Säuberung hat wie in englischsprachigen Ländern. Im Kroatischen, Serbischen oder Tschechischen bezeichnet ‚lustracija’ den starken Wunsch und das Bedürfnis, die frühere kommunistische Obrigkeit – von deren Mitgliedern noch immer viele als öffentliche Angestellte, Diplomaten oder Korrespondenten aktiv sind – aus ihrer Position zu entfernen oder zur Rechenschaft zu ziehen.

Zur Kennzeichnung der gegenwärtigen juristischen und politischen Debatte in Osteuropa lautet der beste Begriff ‚dekomunizacija‘ (Entkommunifizierung), da er in spezifischer Weise das erlittene Unrecht der früheren Opfer des Kommunismus benennt, wobei er gleichzeitig auf die immer noch präsenten kommunistischen Kader und ihre Mitläufer fokussiert. Verstehen läßt sich das Konzept der „lustracija“ bzw. Entkommunifizierung in Kroatien sehr leicht. Die rechtliche Umsetzung ist jedoch beinahe unlösbar. Warum ist das so?

Der Wunsch vieler kroatischer Opfer des Kommunismus nach der Absetzung ex-kommunistischer Bürokraten basiert teilweise auf den abscheulichen Entdeckungen zahlloser Massengräber kroatischer und deutscher anti-kommunistischer Soldaten und Zivilisten, die 1945 und später von den siegreichen jugoslawischen Kommunisten ermordert worden waren.

Die Befürworter der Entkommunifizierung in Kroatien zitieren oft die Europaratsresolution 1481 vom 3. Februar 2006, in der frühere kommunistische Verbrechen scharf verurteilt werden. Diese Resolution ist jedoch rechtlich nicht bindend, und ihre Annahme war weit entfernt von einer generellen Übereinstimmung (99 Abgeordnete stimmten dafür, 42 dagegen).

Es gab eine Menge inoffizieller Kritik in Bezug auf den Wortlaut der Resolution, besonders in Rußland, wobei jedoch auch in Westeuropa insbesondere von vielen linkslastigen Politikern und Journalisten ebenso scharfe Kritik geübt wurde.

Die kroatische Identität: politische Schizophrenie

Die kleinen Nationen, die nach dem Ende des Kommunismus auf der Landkarte erschienen, fällt es schwer, sich ihrer eigenen Identität bewußt und sicher zu sein. Eine von diesen Nationen ist Kroatien. Noch vor jedem etwaigen Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft, sowie zur stark herbeigesehnten EU oder NATO, ist es notwendig, daß das offizielle Kroatien seine Identität findet. Sollte es diese im Rahmen antifaschistischer oder antikommunistischer Grundsätze begründen?

In Kroatien deutet die gegenwärtige politische Debatte auf ein schizophrenes Land. Einerseits zementiert die kroatische Verfassung die antifaschistische Hinterlassenschaft des Landes – während gleichzeitig jede Erwähnung des antikommunistischen Erbes peinlich vermieden wird. Andererseits haben Kroatien und seine Politiker über die ganze Zeit seit der Wiedergeburt des Landes im Jahre 1990 lautstark die antikommunistischen Insignien und Abzeichen präsentiert und sogar Sprachfiguren verwendet, die dem Diskurs des früheren antikommunistischen, profaschistischen und pronazistischen Kroatien aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges ähneln (Währung, Medaillen, einige archaische Ausdrücke usw.).

Sollte sich Kroatien dafür entscheiden, antikommunistische Klauseln in die Verfassung aufzunehmen, wie es viele Bürger nunmehr öffentlich befürworten, so wäre die gesamte politische Klasse Kroatiens mit internationaler Isolierung konfrontiert. Im heutigen neoliberalen, globalen System ist es äußerst erwünscht sich „antifaschistisch“ zu nennen, nicht aber „antikommunistisch“.

Es ist offensichtlich, daß die beharrlichsten Unterstützer des Antikommunismus in ganz Europa die Faschisten und profaschistischen Intellektuellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren. Trotz ihres hastig angenommenen neo-liberalen Standpunktes und ihrer proisraelischen und proamerikanischen Reden stehen die kroatischen Politiker unter genauer Beobachtung der EU und den wachsamen Augen diverser jüdischer Gruppierungen mit Basis in Amerika und Israel. Diese Gruppierungen werden es nie müde, die kroatische, herrschende Klasse davor zu warnen, in einen „rechten Nationalismus“ abzugleiten.

Das veranschaulicht die bemerkenswerte Tatsache – die häufig erwähnt wird – daß in den Augen der Eliten, welche die westliche Politik beherrschen, ein ethnischer Nationalismus zwar für Juden und viele weitere Menschengruppen legitim ist, nicht jedoch für Europäer.

Aus deren Sichtweise kommt sogar ein Ans-Licht-Bringen der Abscheulichkeiten des Kommunismus einer Verteidigung von Kroatiens faschistischer Vergangenheit nahe. Deshalb ist es nicht überraschend, daß die neue kroatische politische Klasse in diesen Fragen versucht, metaphorisch gesprochen päpstlicher zu sein als der Papst. Jedoch erschweren solche Einstellungen die Entkommunifizierung und führen lediglich zur weiteren Verharmlosung der von jugoslawischen Kommunisten verübten Verbrechen.

Eine ähnliche Geisteshaltung herrscht auch in Deutschland vor, wenngleich in weit massiverem und subtilerem Sinne. Weil der Nationalsozialismus zum ultimativen Symbol des Bösen wurde, glaubt sich Deutschland gezwungen, permanent seine demokratische Glaubwürdigkeit beweisen zu müssen, indem es alle etwaigen Zeichen eines Wiederauflebens des Faschismus attackiert.

Auf der heutigen internationalen Bühne wird zu den Verbrechen des Kommunismus wenig gesagt. Während des zweiten Weltkrieges waren die kommunistischen Partisanen in Osteuropa Hauptverbündete der Westalliierten im Krieg gegen den Nationalsozialismus und Faschismus. Beim postmodernen viktimologischen Geschacher verschiedener Ethnizitäten und Rassen würde allerdings jedwede Erwähnung kommunistischer Massenverbrechen in Osteuropa rein quantitativ die diesbezüglich führende der jüdischen Opfer Rolle in den Schatten stellen. Zudem würde es den quasi-religiösen Kult um das Wort „Antifaschismus“ zweifelhaft werden lassen. Das gilt besonders für Kroatien mit seinen starken Verbindungen zu Deutschland während des Zweiten Weltkrieges.

Darüber hinaus würde eine kritische Untersuchung des Kommunismus auch die überproportionale Anzahl jüdischer Intellektueller ans Licht bringen, die eine bedeutende Rolle bei der geistigen Legitimierung des Kommunismus spielten (siehe Johannes Rogalla von Bieberstein, „Jüdischer Bolschewismus.“ Mythos und Realität, 2003).

Politik: Die Kunst des Zufalls

Die antifaschistischen Säuberungen bzw. „Lustrationen“ haben nicht unter den siegreichen Sowjets begonnen, sondern wurden von den westlichen Alliierten noch vor dem offiziellen Ende des zweiten Weltkrieges in die Wege geleitet. Im Spätsommer 1944 fing die amerikanische provisorische Militärregierung in Frankreich an, unterstützt von der französischen kommunistischen résistance, drakonische Gesetze zu diktieren gegen Schriftsteller, Journalisten, Professoren und in der Öffentlichkeit bekannte Intellektuelle, die der Kollaboration mit dem besiegten pro-faschistischen Regime von Pétain-Laval verdächtigt wurden.

Ein Jahr später waren die ersten, die in Deutschland ins Fadenkreuz der amerikanischen Militärregierung gerieten – noch vor den Prozessen der nationalsozialistischen Würdenträger beim Nürnberger Tribunal – die Lehrer, Journalisten und Professoren, die verpflichtet waren, spezielle Fragebögen auszufüllen. Millionen von Menschen, insbesondere hochgebildete Deutsche, verloren ihren Arbeitsplatz – nur um zu Beginn des Kalten Krieges im Jahre 1948 schleunigst wieder eingesetzt zu werden (siehe Caspar von Schrenck-Notzing, Charakter-Wäsche, 1963).

Während des Kalten Krieges waren die Amerikaner intelligent genug, das Wannseeinstitut des SD anzuzapfen, ein auf höchster Ebene angesiedeltes Spionagebüro, das mit der SS verbunden war. Das Institut wurde von dem jungen Rechtsanwalt Major General Walter Schellenberg (1910-1952) geführt. Während des Zweiten Weltkrieges nutzte Schellenberg die Fähigkeiten vieler hochqualifizierter europäischer Akademiker, deren Aufgabe es war, die kommunistische Mentalität zu analysieren. In späterer Zeit, nach dem Kriege, waren viele sich mit Sowjetologie und Kremlforschung befassende US-basierte Denkfabriken weitgehend nach dem Muster der nationalsozialistischen, deutschen Einrichtung Wannseeinstitut SD strukturiert.

Ähnliche Methoden der Durchführung von „Fragebögen“ und „Untersuchungen“ über frühere pro-faschistische Verdächtigte wurden von den siegreichen kommunistischen Autoritäten in Jugoslawien gegen Ende von 1945 angewandt, und das auf sehr viel repressiverem Niveau. Es resultierte in Massenhinrichtungen kroatischer Spitzenakademiker und Intellektueller, die der Kollaboration mit den Nationalsozialisten verdächtigt wurden. (Siehe Zoran Kantolic, Review of Croatian History, 2005, # 1).

Heute jedoch ziehen die Vereinigten Staaten und die Europäische Union den Umgang mit kommunistischen Apparatschiks vor, die sich in „liberale Beamte“ verwandelt haben und nun von den baltischen Staaten bis hin zum Balkan – darunter Kroatien – führende Stellen besetzen. Den Politikern in Washington und Brüssel fällt es leichter, mit früheren jugoslawischen Kommunisten zu kooperieren, als mit unberechenbaren serbischen und kroatischen Nationalisten, die sprichwörtlich nicht gut aufeinander zu sprechen sind.

Hypothetisch betrachtet kann man sagen, daß Amerika – wäre der Kalte Krieg 1989 in einen heißen Krieg zwischen den USA und der UdSSR umgeschlagen – alle verfügbaren antikommunistischen und nationalistischen Kräfte ausgenutzt hätte, um den Kommunismus zu besiegen. Wäre dies geschehen, so hätte alle früheren kroatischen Kommunisten und ihre Meßdiener in den Medien, den Universitäten und der höheren Bildung ein ähnliches Schicksal ereilt, wie die Mitglieder der Baath- Partei Saddam Husseins im Irak 2002: sie hätten entweder ihren Kopf oder ihren Arbeitsplatz verloren.

So hätte es nur eines Zufalles der Geschichte bedurft, und es wären die rechtsorientierten Intellektuellen und Akademiker an der Macht gewesen.

Die Phänomenologie zufälligen Geschehens und des Zufallsfaktors in der Geschichte wurde vom ersten kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman in seinem Buch The Wasteland of Historical Reality (1989) beschrieben. Jedoch ist Tudjman aufgrund seiner revisionistischen Schriften in westlichen Regierungsstellen zur persona non grata geworden, und Kroatien ist in den Verdacht geraten, ein paläo-faschistisches und antisemitisches Land zu sein. In der Geschichtsbetrachtung wandelt sich ein Held oft zum Schurken.

Die Psychologie des Homo iugoslavensis

Es gibt heutzutage kaum einen kroatischen Nationalisten, der nicht wenigstens einen Cousin hat, der im Zweiten Weltkrieg mit den kommunistischen Partisanen kämpfte. Auf welche Weise sollte also der Prozeß der Entkommunifizierung initiiert werden, wenn das unausweichlich einen Effekt auf die Leben eben jener Menschen bedeutet, die mit diesem Prozeß der Entkommunifizierung beginnen müssten? Die Anzahl der Ex-Kommunisten in der sogenannten konservativen und nationalistischen Partei, der Christlich Demokratischen Partei (HDZ) oder der größten Regierungspartei, der sozialistischen SDP in Kroatien ist enorm.

Die in den höchsten Ämtern befindlichen Diplomaten in Kroatien sind ehemalige kommunistische Journalisten und Diplomaten. Auf den Gängen des kroatischen Außenministeriums kursiert der Spruch, daß „die moderne kroatische Diplomatie ein ideales Refugium für recycelte ehemalige kommunistische Journalisten, Spitzel und Verräter“ sei, oder-- um es poetischer auszudrücken--für „Auslandskorrespondenten“.

Heutzutage besteht trotz der scharfen antikommunistischen Rhetorik, die nirgendwo im Westen ihresgleichen hat, in Zagreb ein großer Teil der philosophischen Fakultät und auch der Politikwissenschaften (den Hauptzentren der öffentlichen Meinung) aus Männern und Frauen, deren Eltern eingefleischte Kommunisten waren. Auf welche Weise sollte dort aufgeräumt werden? Es ist recht leicht sie kenntlich zu machen, aber unmöglich hier eine ‚lustracija’ durchzuführen.

Ein beispielhafter Fall: Im Jahre 1984 wurden mein Vater, der frühere katholische Rechtsanwalt Mirko Sunic und meine Schwester, die Professorin Mirna Sunic, zu jeweils 4 Jahren bzw. 10 Monaten Gefängnis verurteilt, gemäß Artikel 133 der Strafgesetzgebung im kommunistischen Jugoslawien – einem Gesetz das „feindliche Propaganda“ unter Strafe stellte. Die Anklagen wurden von dem staatlichen kommunistischen Anwalt Ante Nobilo erhoben. Später wurde Mirko Sunic von Amnesty International und 15 amerikanischen Kongressabgeordneten als politischer Gefangener anerkannt und betreut. Zur gleichen Zeit erhielt ich, während ich in den Vereinigten Staaten lebte, dort politisches Asyl.

Gegenwärtig ist Nobilo ein angesehener Berater der neuen linksgerichteten kroatischen Regierung, ebenso wie Budimir Loncar, der zu der Zeit, wo mein Vater und meine Schwester eingesperrt wurden, Bundessekretär des Außenministeriums im kommunistischen Jugoslawien war. Nobilo und Loncar spielen häufig die Gastgeber für ausländische NGOs und sind verantwortlich für die Beurteilung von Kroatiens Menschenrechtsbericht und die Toleranz gegenüber nicht-europäischen Immigranten.

Ähnliche Fälle können zu Tausenden aufgezählt werden, wenn nicht gar Hunderttausenden, wenn man die Zeitspanne kommunistischen Terrors von 1945 bis 1990 in Betracht zieht (siehe Mirko Sunic, Moji inkriminirani zapisi, [__Meine inkriminierten Schriften], 1996).

Wenn man derselben Logik weiter folgen wollte, so sollte nicht vergessen werden, daß der antikommunistische und revisionistische Präsident, der frühere Franjo Tudjman höchstselbst die hohe Position eines kommunistischen Generals in Belgrad in den späten 1950ern innehatte – der Zeit der schlimmsten kommunistischen Unterdrückung. Wenn er nichts gewußt haben soll von den Massenmorden, die von den Kommunisten verübt wurden, von wem soll man es dann annehmen? Und wie soll man Tudjman dann beurteilen oder seine revisionistische Tätigkeit einschätzen?

Die Schuld „dem anderen“ zuzuschreiben ist ein typisches Merkmal totalitären Geistes. Es ist lebendig und agil im öffentlichen und geschäftlichen Leben im heutigen Kroatien, ebenso wie in der kroatischen Rechtsprechung. Das gleiche Muster tritt jedoch im gesamten post-kommunistischen Europa auf. Es gibt einen Ausdruck, der den Kommunismus in seiner gesamten Geschichte charakterisiert: „Nein, ich nicht! Der da ist schuldig! Der hat die Schuld! Nicht ich! Der da!“

Es wird oft vergessen, daß der Kommunismus nicht eine Abweichung von der Demokratie war, sondern die Demokratie zu ihrem Extrem gebracht – der „Terror aller gegen alle in allen Instanzen“ (terreur totale de tous contre tous à tous les instants (Claude Polin, L’Esprit totalitaire, 1977). Die jugoslawischen Kommunisten hatten ihre schlimmsten Feinde nicht in der katholischen Kirche oder den immer sprichwörtlichen kroatischen Nationalisten, sondern inmitten ihrer eigenen Reihen und Kader. Man beachte das ewige gegenseitige Abschlachten innerhalb der Linken anfangend beim Spanischen Bürgerkrieg bis hin zu den unablässigen stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion.

Wer orchestrierte den Kriege von 1991?

Es gibt eine ernsthafte These vorzubringen. Wurde der Krieg von 1991 im ehemaligen Jugoslawien von früheren kommunistischen Kadern Kroatiens und Serbiens orchestriert? Wurde er ausgelöst durch die Fehde zwischen regionalen kommunistischen Geheimdienst-Offizieren? Wie erklärt man die Tatsache, daß sowohl der nationalistische Kroate Franjo Tudjman als auch sein serbischer Gegenspieler Slobodan Milosevic von einer enormen Anzahl früherer kommunistischer Geheimdienst-Offiziere umgeben waren – ganz zu schweigen davon, daß sie beide überzeugte Mitglieder der jugoslawischen, kommunistischen Partei gewesen waren? Wie wäre die Entwicklung im kommunistischen Ex-Jugoslawien verlaufen, wenn sowohl in Serbien als auch in Kroatien hochgebildete nicht-kommunistische Exil-Politiker an der Spitze des jugoslawischen Staates gestanden hätten? Dies ist eine gute Frage für Historiker, Soziologen und Futurologen.

Den größten Fehler begingen die im Exil befindlichen stark nationalistischen und antikommunistischen Kroaten. Genaugenommen machten sie einen tödlichen Fehler. Ihre enorme finanzielle und militärischen Hilfe für Kroatien – im Werte von Milliarden von Dollars – hätte verknüpft sein müssen mit der Entfernung der alten kommunistischen kroatischen Kader und der geschlossenen Rückkehr der Exilkroaten in ihr altes Heimatland. Dies hätte eine günstige soziologische Balance ergeben und auf bedeutende Weise die heutigen Spannungen zwischen kommunistisch erzogenen Kroaten und nationalistischen Kroaten verringert.

Da jedoch diese kroatischen Nationalisten nicht zurückkehrten, scheint jedwede mögliche Entkommunifizierung – oder ‘lustracija’, wie die Kroaten sie nennen – moralisch und logistisch undurchführbar, weil sie große Verwerfungen in der Bevölkerung erforderlich machen und unweigerlich zum Bürgerkrieg führen würde. Dennoch kann dieses sehr gewalttätige Szenario nicht ganz ausgeschlossen werden.

Dieses ganze Phänomen der sogenannten Säuberungen oder „lustration“ ist in der Geschichte nichts Neues. Nach dem Sturz Napoleons hatte der französische König Ludwig XVIII in der Ära der Restauration seine früheren Gegenspieler kooptiert, indem er den meisten napoleonischen Offizieren immer noch einen reduzierten Sold (demi soldes) ausbezahlte, denn er wußte, daß er andererseits in Frankreich mit Chaos und Terrorismus hätte rechnen müssen. Auf ähnliche Art hat der spanische Diktator Francisco Franco seinen früheren Gegnern, den besiegten spanischen Republikanern, klugerweise kleine Pensionen ausgezahlt.

Und dennoch hat das Phänomen der geschichtlichen Zufälle und Launen seine eigenen kosmischen Gesetze, die der menschlichen Analyse unzugänglich bleiben. Der rumänisch-französische Essayist Emile Cioran hat geschrieben, daß man mehr Wahrheit und Gerechtigkeit finde in der Alchemie des Mittelalters oder den Eingeweiden römischer Wildgänse als in dem Geschwafel von Demokratie, Gerechtigkeit, Glück und Wohlstand.

Dr. Tomislav (Tom) Sunic ist US-kroatischer Schriftsteller, Übersetzer, Professor für Politwissenschaft und ehemaliger Diplomat. Er lebt zurzeit in Kroatien. www.tomsunic.com

Das undurchführbare Projekt in Kroatien

www.neue-ordnung.at

Verfall und Glanz des Nationalismus Nationalismus - Identität - Europäertum Gyula Kurucz (Hrsg.) Edition q Verlags-GmbH, Berlin, 1994

Kein anderes politisches Phänomen vermag so kreativ und so destruktiv zu wirken wie der Nationalismus. Nationalismus kann Metapher sein für letzte Wahrheit und zugleich Allegorie für die Nostalgie des Todes. Kein exotisches Land, kein Gold, keine Frau kann solche Gefühlsausbrüche hervorrufen wie das geheiligte Vaterland, und, alle Freudianer mögen verzeihen, mehr Menschen sind für die Verteidigung ihres Vaterlands gestorben als für die Verteidigung der Ehre ihrer Frauen. Wenn wir davon ausgehen, dass politische Macht das stärkste Aphrodisiakum darstellt, so muss der Nationalismus die äußerste Erfüllung sein. Spricht man in angelsächsischen Ländern über Nationalismus, so wird dieser gewöhnlich reflektiert als Ausdruck uralter Stammesriten, als Gewalt und böse Politik, als etwas, das dem Fortschrittsgedanken zuwider läuft. Für einen amerikanischen Liberalen ist Nationalismus traditionell mit irrationalen Impulsen verknüpft, mit etwas Unkalkulierbarem, das zudem den hässlichen Zug aufweist, kaufmännische Denkungsart zu verderben. Ein Kaufmann liebt weder Grenzen noch nationale Symbole, seine Ehre sind seine Handelsgüter, seine Freunde sind die, die auf dem weltweiten Markt die besten Offerten unterbreiten. Es ist kein Zufall, dass der Kaufmann während des Zweiten Weltkriegs die Allianz mit dem Kommissar vorzog, ungeachtet dessen, dass die Grausamkeit des Kommissars oftmals die des Nationalisten in den Schatten stellte. Daniel Bell hat einmal geschrieben, amerikanische Liberale fänden es schwierig, ethnische Verblendung überhaupt zu verstehen, da die amerikanische Denkungsweise „räumlich und zeitlich nicht festgelegt" sei. In der Tat muss es einem insularen Geist absolut närrisch erscheinen, wenn er zwei Völker beobachtet, die sich um einen kleinen Bach oder einen winzigen Streifen Land streiten, wenn zudem kaum ökonomischer Vorteil im Spiel ist. Der Politiker in Amerika ist, im Gegensatz zu seinen europäischen Kollegen, für gewöhnlich zunächst Grundstücksmakler, und seine Haltung zur Politik gleicht der zu einer Transaktion.

Ohne Zweifel betrachtet der heutige Amerikaner „on the road", in den Fußstapfen von Jack Kerouac oder Dos Passos, jene ethnische Ausschließlichkeit als etwas Ängstigendes, die heute Osteuropa vom Balkan bis zum Baltikum erschüttert. Die Mystik des territorialen Imperativs, mit ihrem unvorhersehbaren ethnischen „Kessel", muss für die Denkungsweise des „Schmelztiegels" eine grobe Beleidigung darstellen.

Entgegen der weitverbreiteten Auffassung ist Nationalismus keine Ideologie, da ihm die programmatische Dimension fehlt und er sich jeder Kategorisierung entzieht. Bestenfalls kann Nationalismus beschrieben werden als eine Art erdverbundenen Verhaltens mit Resten von Heidentum. Während der Liberalismus mit dem rationalen Singular operiert, bevorzugt der Nationalismus stets den irrationalen Plural. Für den Liberalen ist das Individuum Epizentrum der Politik, für den Nationalisten bedeutet es lediglich ein Partikel in der historischen Gemeinschaft. Um die verschiedenen Spielarten von Nationalismus sichtbar zu machen, könnte man eine europäische Familie beobachten, die am steinigen Strand der französischen Riviera Urlaub macht, und sie mit einer amerikanischen Familie am Sandstrand von Santa Barbara vergleichen. Die erstere wird peinlich genau ihren eigenen kleinen Platz abstecken und auf die Kinder aufpassen; letztere wird in dem Moment, da sie den Strand erreicht, nomadengleich ausschwärmen, jedes Familienmitglied wird dabei seine „privacy" suchen. Nebenbei: Dieses Wort existiert in den kontinentalen europäischen Sprachen gar nicht (und ist mit „private Abgeschiedenheit" nur notdürftig übersetzt).

Nach dem Zweiten Weltkrieg sich für einen Nationalisten zu erklären, bedeutete für einen Europäer etwa so viel wie das Eingehen einer Ehe mit dem Neofaschismus. Angesichts der Asche von Auschwitz waren in der Tat nur wenige gewillt, öffentlich die romantischen Ideen von Dichtern und Prinzen des 19. Jahrhunderts zu preisen, deren idyllische Eskapaden ein Jahrhundert später einem ganz und gar nicht idyllischen Schlachthaus zur Geburt verhalfen. In Jalta betrachtete man dann die Idee eines Europa, das die Liturgie von Blut und Boden sang, als zu gefährlich, und beide Supermächte fesselten diese Erinnerung mittels ihrer besonderen Strategie der „doppelten Zügelung". Nach ihrer Exkursion in den größten Bürgerkrieg der Geschichte entschlossen sich die Europäer, nicht länger über Nationalismus oder Selbstbestimmung zu sprechen. Statt dessen zogen es viele europäische Intellektuelle, besonders die gelehrten Deutschen, vor, ihre unterdrückte nationalistische Energie auf weit entfernte Palästinenser, Sandinisten, Kubaner oder Kongolesen zu richten, statt auf den eigenen ethnischen Kreis. Nationalismus in der dritten Welt wurde für die europäischen Mandarine sowohl zur esoterischen Katharsis all zum exotischen Über-Ego; über die Lage eines Xhosa in Südafrika oder eines Ibo in Nigeria zu theoretisieren oder Trecks nach Kaschmir und Katmandu zu organisieren, wurde zur eleganten Art des sich Wälzens in einem neuen politischen Romantizismus. Diese Stellvertreterart eines Meta-Nationalismus spielte lange Zeit für die untätigen und domestizierten Europäer, die Zeit brauchten, ihre Wunden zu heilen, und die auf eine neue Renaissance warteten, die Rolle eines psychologischen Ruhekissens.

Hat diese Renaissance bereits stattgefunden? Das liberale Zwischenspiel, welches 45 Jahre dauerte und seinen größten Aufschwung nach dem Kollaps seines kommunistischen alter ego erlebte, konnte in der Tat sein Ende finden. Von Iberien bis Irkutsk, von Kasachstan bis Kroatien reklamieren hunderte verschiedene Völkerschaften wieder einmal ihr Recht auf einen Platz unter der Sonne. Die Feststellung, sie würden ihre Stimme allein aus wirtschaftlichen Gründen erheben, ist irreführend, und Liberale machen einen grossen Fehler, wenn sie Nationalismus mit strukturell-funktionellen Paradigmen wegzuerklären versuchen oder wenn sie ihn achselzuckend als Überbleibsel einer traditionell vergangenen Gesellschaft abtun. Im Gegensatz zu weitverbreiteten Annahmen ist der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa und in der Sowjetunion sehr direkt verknüpft gewesen mit ethnischen Frustrationen, die über Jahrzehnte geschlummert, sich jedoch zu sterben geweigert hatten. Dies ist das offensichtlich Paradoxe am Ende des 20. Jahrhunderts: Während allenthalben über Integration, multikulturelle Prozesse, Ökumene und kosmische Verbrüderung gesprochen wird, werden überall Brüche, Fissuren und Spaltungen sichtbar. Paradoxes zuhauf: Wenn das kleine Luxemburg einem viel grösseren Slowenien Predigten hielt über die Nützlichkeit des Verbleibens im jugoslawischen Verbund; wenn Präsident Bush, nachdem es ihm nicht gelungen war, die Balten wirklich zu retten, einen künstlichen Satrapen zu Hilfe nahm und den Begriff „Selbstbestimmung" ins Feld führte, was doch längst nur noch die Selbstbestimmung einer Handvoll neuer Machthaber war; oder wenn sowjetische Apparatschiks Sorge heuchelten bezüglich der schlimmen Lage der Palästinenser und gleichzeitig ihre Baschkiren und Meschketen umso schlimmer behandelten.

Heute tritt der Nationalismus in die dritte Phase seiner Geschichte ein und zeigt erneut - vergleichbar einer vielköpfigen Hydra und heulenden Hekuba - seinen unvorhersehbaren Charakter. Muss sich seine Kreativität allein in Gewalt äußern? Ethnische Kriege sind bereits in Nordirland im Gange, im Baskenland, auf Korsika, von Jugoslawien ganz zu schweigen, wo zwei entgegengesetzte Nationalismen das Europa von Versailles in Stücke reißen und die Nachfolger der Vertragasschliessenden mit unbequemen und fordernden Fragen konfrontieren.

Nationalismus tritt in verschiedenen Ländern unterschiedlich auf, und alle Spielarten haben ihre eigene Bedeutung. Nationalismus kann von rechts herkommen, ebenso auch von links. Er kann reaktionär oder progressiv sein, in jedem Fall aber kann er nur existieren, wenn da ein dialektisches Anderes ist. Ohne die Konfrontation mit dem aggressiven französischen Jakobinismus hätte der deutsche Nationalismus des 19. Jahrhunderts nicht gedeihen können; der moderne englische Nationalismus ist nicht denkbar ohne die Heimsuchungen durch das aggressive Preußen. Jeder Nationalismus braucht sein Feindbild, sein Bild des Bösen, denn Nationalismus ist erklärtermaßen der Ort politischer Polarisierung, wo der Unterschied zwischen Feind und Freund, zwischen „hostis“ und „amicus“, bis zu seinem tödlichen Paroxysmus vorangetrieben wird. Konsequenterweise ist es dann kein Wunder, dass ethnische oder gar interethnische Kriege (wie zur Zeit zwischen Kroaten und Serben) zu den grausamsten überhaupt gehören, wobei beide Seiten einander schmähen, sich verteufeln und für die totale Vernichtung des jeweils anderen beten.

Hinzu kommt, dass jeder Nationalismus parallel zu seinem positiven Gründungsmythen sich auch seiner negativen Mythologie bedienen muss, welche in Zeiten heraufkommender nationaler Desaster das Volk für den Kampf mit dem Feind rüstet und bestärkt. Um ihre heutige junge Generation zu mobilisieren, werden also polnische Nationalisten ihre Toten von Katyn auferstehen lassen, die Deutschen ihre in Schlesien und im Sudetenland Begrabenen; die Kroaten werden ihre Ikonographie auf den Massengräbern der Nachkriegsjahre aufbauen, die Serben ihre Hagiographie auf den Opfern der Kriegsgefangenenlager. Leichenzähler, ausgerüstet mit neuesten Statistiken und modernsten Suchgeräten, erhalten Unterstützung durch griffige Metaphern, die gewöhnlich dazu tendieren, die eigene Opferzahl stark erhöht, die des Feindes aber stark reduziert anzugeben. Deutsche Nationalisten sprechen von Polen als „Polacken", und französische Chauvinisten nennen die Deutschen „boches". Wer kann leugnen, dass rassische und ethnische Schmähungen zu den gebräuchlichsten Waffen gehören, die weltweit von Nationalisten gebraucht werden?

Nationalismus ist kein allgemeines Konzept, und liberale Ideologen täuschen sich oft, wenn sie den europäischen Nationalismus auf ein Konzept, eine Kategorie reduzieren wollen. Unterstrichen sei deshalb: Es gibt ausschließlichen, alleinigen (exclusive) sowie anderes einschließenden (inclusive) Nationalismus, ebenso wie es diese beiden Arten von Rassismus gibt. Mitteleuropäer machen im Allgemeinen einen feinen Unterschied zwischen jakobinischem staatsgebundenem zentralistischem Nationalismus sowie auf der Gegenseite dem volksgebundenen Nationalismus in Ostmittel- und Osteuropa. Der jakobinische Nationalismus ist von Natur aus zentralistisch, er zielt auf globale Demokratie, in jüngster Zeit hat er seinen Ausdruck gefunden in dem von George Bush verkündeten ökumenischen Postulat von der „einen Welt". Ironischerweise gab es schon, bevor die Jakobiner überhaupt geboren waren, eine Bewegung in Richtung auf den französischen Nationalismus, und zwar als Produkt einer besonderen geopolitischen Lage, aus der später der moderne französische Staat hervorging. Richelieu oder Ludwig XIV. waren in diesem Sinne ebenso Jakobiner wie ihre späteren Nachfolger Saint-Juste, Gambetta oder De Gaulle. In welche Richtung man im heutigen Frankreich auch blickt - nach links, rechts oder ins Zentrum -, die Antwort ist stets Jakobinismus. Auf ähnliche Weise handelten in England die Tudors und Cromwell (mit ihren Liquidierungen und dem Völkermord in Cornwall und Irland – „ad majorem dei gloriam“- sowie an einer grossen Zahl weiterer ethnischen Gruppen) als zentralistische Nationalisten. Churchill und andere britische Führer des 20. Jahrhunderts retteten das Land 1940, als sie erfolgreich an den Nationalismus appellierten.

Im Gegensatz zu weitverbreiteten Ansichten wurde das Wort „Nationalismus“ im nationalsozialistischen Deutschland kaum benutzt. Statt dessen popularisierten die deutschen Nationalisten in den zwanziger und dreißiger Jahren solche abgeleiteten Begriffe wie „Volkstum“, „Volksheit“ oder „völkisch“, die allesamt etymologisch mit dem Wort „deutsch“ zusammenhingen und während der Naziherrschaft sinnverwandt mit dem Wort „rassisch“ verwendet wurden. Das Wort „Volk“ wurde im frühen 19. Jahrhundert durch Johann Gottlieb Fichte in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt, als die Deutschen mit einiger Verspätung begannen, ihr Staatsbewusstsein zu festigen. „Volk“ darf nicht einfach mit dem lateinischen „populus“ oder dem englischen „people“ gleichgesetzt werden. Und eine Ironie der Geschichte ist es, dass die Bedeutung des Wortes „people“ im Englischen durch seinen vielgestaltigen Sinn eher verschwommen ist. „People“ kann ein organisches Ganzes bedeuten (damit ähnlich dem „Volk“), zunehmend aber wird es im Sinne einer Ansammlung vieler einzelner Individuen gebraucht. Ebenso ironisch: Der deutsche Gedanke vom Nationalismus unterdrückten. Ähnlich übernahmen in England Kaufleute und Überseekompagnien die Rolle der Erbauer des Nationalstaats, die der englischen Krone, auch mit Hilfe von Seeräubern, zu Reichtum verhalfen. Interessant auch die Tatsache, dass Churchill während der Schlacht um England mit dem Gedanken spielte, Downing Street und den Westminster Palace in den Mittelwesten der USA zu verlagern - eine Geste, die wohl in einem mitteleuropäischen Staat als nationaler Selbstmord empfunden worden wäre.

Frankreich wurde - wie Amerika - zuerst ein Staat, auf diesem Fundament vollzog sich danach, aus unterschiedlichster Stammesherkunft die Verschmelzung der Menschen zum französischen Volk. Im Gegensatz dazu waren die Deutschen zwar lange ohne Staat, doch immer schon ein geschlossenes Volk. Die Geschichte Frankreichs dagegen ist hauptsächlich eine Geschichte des Völkermords; französische Herrscher, von den Kapetingern und Bourbonen bis hin zu den Jakobinern der Neuzeit betrieben systematisch die Ausrottung von Ozitaniern, Vendéern, Bretonen und anderen Völkerschaften. Unterdrückung von Regionalismus und Regionalbewusstsein zählte zu den wichtigsten Kennzeichen der französischen Akkulturation - bis hin zu dem jüngsten Versuch, Araber aus den Ländern des Maghreb zu „französieren". Heute zahlt Frankreich den Preis für seine Träume von Egalité und Universalismus. Einerseits versucht es, den Massen von Einwanderern aus der dritten Welt universelle Werte und Gesetze überzustülpen, andererseits muss es täglich für seine multirassischen sozialen Schichten das Prinzip der Selbstbestimmung proklamieren. Betrachtet man das Ganze aus historischer Perspektive, so spricht alles dafür, dass Frankreich zum Spitzenkandidaten dafür geworden ist, dass von ihm rassische Kriegführung auf ganz Europa übergreift.

Der Blick auf Deutschland und die osteuropäischen Staaten enthüllt dem scharfen Auge sofort eine unruhige Region mit fließenden Grenzen, „Saison-Staaten", jedoch mit stark kultur und geschichtsbewussten Völkern. Mittel- und Osteuropa verfügen über weit zurückreichende Erinnerungen, doch die dortigen Grenzen sind keineswegs klar gezogene ethnographische Linien. Deutschland z. B. bietet das Bild eines offenen und kaum definierten Staates, zugleich aber ist es eine in sich geschlossene Gesellschaft. Im Gegensatz dazu sind das jakobinische Frankreich, das funktionalistisch denkende England und Amerika geographisch geschlossene Staaten, aber offene Gesellschaften. In diesen Ländern war der Nationalismus stets einschliessend (inclusive) and trat mit globalen wie imperialistischen Ansprüchen auf, indem er seine zentralistische Botschaft weltweit sehr verschiedenen Völkern vermittelte.

Auch die Ethnopsychologie der europäischen Völker ist durch die geographische Lage beeinflusst worden. Der Deutsche war lange Zeit ländlich geprägt; sein psychologischer Habitus und sein Auftreten sind korporativ und erdverbunden. Er zeigt grosse Verbindlichkeit, doch mangelt es ihm an Höflichkeit; wie die meisten Landbewohner ist er gewöhnlich schwerfällig und tut sich schwer mit sozialen Beziehungen. Im Gegensatz dazu ist der Franzose, unabhängig von ideologischen Bindungen und sozialem Hintergrund, fast immer Kleinbürger; mit bestem Auftreten und Stil, doch voller Anmaßung. Anders als der deutsche Nationalist entwickelt der französische ein Übermaß an Stil, doch ohne Verbindlichkeit. Selbst der ignoranteste ausländische Tourist wird bei den Deutschen etwas neblige und unberechenbare Züge feststellen, während er gleichzeitig erfreut ihren Sinn fär professionelle Korrektheit und absolute Ehrbarkeit zur Kenntnis nimmt. Im Gegensatz dazu werden Körpersprache und Manieriertheit der Franzosen, so angenehm sie auch erscheinen, häufig einen perplexen Eindruck und Enttäuschung hinterlassen.

Im Verlauf ihrer Ethnogenese hat die Sprache den jeweiligen Völkern letzten „Anstrich" verliehen. Die deutsche Sprache ist eine organische, unendlich verästelte Sprache; sie ist zugleich die reichste europäische Sprache. Die französische Sprache, mit grossen Ähnlichkeiten zur englischen, ist eine begrenzte Sprache, die sich mehr im Kontext als in der Flexion entfaltet. Als idiomatische Sprachen sind das Französische und Englische ideal für maritime Handelstreibende wie für die Geschäftigkeit eines Hafens. Im Laufe der Geschichte, beim Drang der Engländer und Franzosen nach Universalismus, haben sich das „sabir“-Französisch und das „Pidgin“-Englisch sowohl als erstaunlich homogenisierende Mittel wie als handhabbare Faktoren bei der Akkulturation erwiesen. In der Folge wurden Englisch und Französisch universelle Sprachen, im Gegensatz zum Deutschen, das sich niemals aus seinem geographischen Dunstkreis hinausbewegt hat.

Die deutsche Idee vom Reich eignete sich über Jahrhunderte perfekt für die offenen Landstriche Europas, in denen diverse, eng verbundene Gemeinschaften lebten. Weder Habsburger noch Brandenburger haben jemals versucht, die nicht-germanischen Völker ihrer Jurisdiktion zu unterwerfen oder sie zu assimilieren, wie das die Franzosen und Engländer in ihren Territorien taten. Die Donaumonarchie war, ungeachtet ihrer Mängel, eine stabile Gesellschaft, erprobt in fünfhundertjährigem Bestehen. Während des ersten und zweiten Reiches verfügten die Regionen, Städte und Dörfer innerhalb der Grenzen Österreichs und Preußens über ein großes Mass an Eigenbestimmung, was sie häufig verwundbar machte gegenüber französischen, schwedischen und englischen imperialen Ambitionen.

Das deutsche „Volk“ ist ein aristokratischer wie auch ein demokratischer Begriff, da die Beziehungen zwischen der einheimischen Aristokratie und dem deutschen Volk traditionell organisch waren. Anders als Frankreich oder England hat Deutschland kaum jemals mit ausländischer Versklavung experimentiert. Die ethnischen Unterschiede zwischen Aristokratie und Volk sind in Deutschland minimal; im Gegensatz dazu hat sich die Aristokratie in Frankreich, Spanien und England für gewöhnlich aus der nordeuropäischen Herrscherkaste rekrutiert, und nicht aus der Quelle des eigenen Volkes. Folglich kann man selbst heute noch, trotz aller Forderungen der Französischen Revolution, größere rassische Differenzen zwischen einem französischen Aristokraten und einem gewöhnlichen Franzosen feststellen, als zwischen deutschen Aristokraten und Normalbürgern. In Deutschland wurzelte die Beziehung zwischen „Eliten" und „Gemeinen" stets in ganzheitlicher Umgebung, als Folge blieb man eine Gesellschaft, die kaum einen ausgearbeiteten Gesellschaftsvertrag benötigt. Die sozialen Beziehungen sind auf horizontale Hierarchie und geschlossene Strukturen gegründet, zusätzlich gestützt durch die Idee von der „Gleichheit unter Gleichen". Dagegen kann man die englische und französische Gesellschaft als vertikal hierarchisch und äußerst geschichtet bezeichnen; in der Konsequenz kann es nicht überraschen, dass der französische und englische Rassismus zu den bösartigsten Spielarten auf der Welt gehören. Hier sollte man daran erinnern, dass die ersten Rassengesetze unseres Jahrhunderts nicht in Deutschland in Kraft traten, sondern im liberalen Amerika und England.

Politologen werden eines Tages darüber nachdenken, warum die kräftigsten egalitären Impulse in Frankreich und Amerika zu beobachten sind, zwei Ländern, die noch bis vor kurzem die härtesten Formen des Rassismus praktiziert haben. Sind wir heute Zeugen einer besonderen Form von Gewissensbissen oder nationalem Masochismus, oder einfach einer egalitären Form von einschliessendem (inclusive) Nationalismus? Solcher Nationalismus und Rassismus, die sich in Universalismus und globalem Anspruch manifestieren, versuchen den Unterschied zwischen Ausländern und Einheimischen zu tilgen, obwohl der Ausländer in Wirklichkeit stets gezwungen ist, die legale Suprastruktur seiner nun „reuevollen" weißen Herren zu akzeptieren. Indem er seine rassistische Vergangenheit scheinbar beiseiteschiebt, jedoch seine universalistische Botschaft ins Extreme steigert, zeigt der Westen paradoxerweise, dass er heute kein bisschen weniger rassistisch ist, als er es gestern war. Ein elitärer Denker wie Vilfredo Pareto hat dazu geschrieben, dass liberale Systeme im Niedergang sich mehr um die Herkunft ihrer Hunde zu sorgen scheinen als um die Herkunft ihrer Nachkommen. Und ein Linker, Serge Latouche, bemerkte kürzlich, dass die liberalen Rassisten, während sie die Flagge des ethnisch-nationalen Masochismus schwenken, zugleich ihren „dekorativen Farbigen" liberale Werte und Rechtsnormen aufzwingen.

Völkern und ethnischen Gruppen geht es wie Zweigen und Blutenblättern; sie wachsen und sterben ab, selten nur erstehen sie wieder. Frankreich und England mögen ihre glorreiche Vergangenheit beschwören, doch diese Vergangenheit wird unweigerlich mit der neuen, ethnisch vielfältigen Realität verbunden werden müssen. Litauen war vor mehreren Jahrhunderten ein gigantisches kontinentales Imperium, heute ist es nur ein Fleckchen auf der Karte. Das unbedeutende Moskau des 15. Jahrhunderts wurde zum Zentrum des folgenden russischen Reiches, weil in anderen Fürstentümern, wie Susdal oder Nowgorod, mehr über Ästhetik als über Machtpolitik reflektiert wurde. Große Katastrophen, wie Kriege und Hungersnöte, können Vorboten des Zusammenbruchs einer Nation sein, doch ebenso können Zügellosigkeit und demographischer Suizid den Ausgang des menschlichen Dramas bestimmen. Das postideologische Europa wird sehr bald entdecken, dass es sich nicht für ewig in die Abhängigkeit von Ideen technokratischer Eliten begeben kann, die der Chimäre eines „gemeinsamen europäischen Marktes" hinterherjagen. Wie stets, so wird auch diesmal die Bedeutungsschwere von kostbarem Blut und heiligem Boden überspringen von denen, die ihr Schicksal am besten zu meistern wissen, auf jene, die bereits entschlossen waren, ihr Schicksal aufzugeben. Oder, um Carl Schmitt zu paraphrasieren: Wenn ein Volk sich von der Politik abwendet, so bedeutet dies nicht das Ende der Politik; es bedeutet einfach das Ende eines schwächeren Volkes.

Marx, Moses und die Heiden in der Offenen Stadt (1) Sleipnir ( Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik, Heft 2. März /April, 1995)

Mit der Bekehrung des römischen Kaisers Konstantin zum Christentum neigte sich die Epoche des heidnischen Europa ihrem Ende entgegen. Im Laufe des folgenden Jahrtausends wurde der gesamte europäische Erdteil der Herrschaft des Evangeliums unterworfen - bisweilen durch friedliche Überzeugungsarbeit, oft aber durch gewaltsame Bekehrung. Die noch gestern die Verfolgten des Alten Rom gewesen, wurden nun ihrerseits im christlichen Rom die Verfolger. Wer noch zuvor das ihm von Nero, Diocletian oder Caligula bereitete Schicksal beweinte, zögerte jetzt nicht, mit „kreativer" Gewalt gegen gottlose Heiden vorzugehen. War Gewaltanwendung nach dem Buchstaben des christlichen Gesetzes auch untersagt, wurde sie doch hemmungslos ausgeübt gegen jene, die nicht in die Schar der „auserwählten Kinder" Gottes hineinpaßten. In der Regierungszeit Konstantins nahm die Verfolgung der Heiden Formen an, die denjenigen, mit denen früher die alten Glaubensgemeinschaften die neuen verfolgt hatten, nicht nur vergleichbar waren, sondern sie in ihrer Unerbittlichkeit noch übertrafen.1 Durch das Edikt von 346 n.Chr. und das zehn Jahre später erlassene Edikt von Mailand wurden Heidentempel und die Verehrung heidnischer Gottheiten als magnum crimen gebrandmarkt. Über alle, die schuldig befunden wurden, an althergebrachten Opferritualen teilgenommen oder heidnischen Götzen angebetet zu haben, wurde die Todesstrafeverhängt. „Unter Theodosius unternahm die Verwaltung eine systematische Anstrengung, die verschiedenen Formen des Heidentums durch Auflösung, Enteignung und Ächtung der noch vorhandenen Kultgemeinden zu beseitigen."2 Das „Finstere Frühmittelalter" hatte begonnen.

Die Gewalttätigkeit der Christenheit ad maiorem dei gloriam wütete nach außen und innen ungebremst bis zum beginnenden achtzehnten Jahrhundert. Neben gotischen Kirchtürmen von atemberaubender Schönheit bauten die christlichen Machthaber Scheiterhaufen, auf denen namenlose Tausende hinweggerafft wurden. Rückblickend läßt sich christliche Intoleranz gegen Ketzer, Juden und Heiden mit der bolschewistischen Intoleranz des zwanzigsten Jahrhunderts gegen klassenfeindliche Kräfte in Rußland und Osteuropa vergleichen; jedoch mit einem Unterschied: ihre Herrschaft währte länger. In der Abenddämmerung des römischen Kaiserreiches kommentierte der heidnische Philosoph Celsus den christlichen Fanatismus: „Sie (die Christen) wollen über ihren Glauben nicht rechten, sie beharren auf ihrem 'Nicht prüfen sollst du, du sollst glauben'...3 *" Gehorsam, Gebet und Verzicht auf kritisches Denken galten den Christen als die perfekten Schlüssel zur ewigen Seligkeit. Celsus beschreibt die Christen als Menschen, die zu engstirniger Parteilichkeit und primitivem Denken neigen und darüber hinaus eine bemerkenswerte Lebensverachtung an den Tag legen.4 In ganz ähnlichem Sinne äußerte sich im neunzehnten Jahrhundert der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche, der in seinem beißenden Stil die Christen als Menschen schildert, die den Haß auf sich selbst und auf andere hervorkehren: „...der Haß gegen die Andersdenkenden; der Wille zu verfolgen".5

Zweifellos müssen die Frühchristen fest daran geglaubt haben, daß das Ende der Geschichte sich deutlich am Horizont abzeichne, und mit ihrem historischen Optimismus dürften sie sich ebenso wie mit der Gewalt gegen die „Ungläubigen" die Bezeichnung Bolschewiken des Altertums verdient haben. Viele Autoren haben darauf hingewiesen, daß das Römische Reich nicht durch den Ansturm der Barbaren zerbrach, sondern daß Rom bereits „von innen her verrottet (war) durch christliche Sekten, Verweigerer des Kriegsdienstes, Feinde des Staatskultes, Verfolgte und Verfolger, kriminelle Elemente aller Art sowie das allseitige Chaos."6 Paradoxerweise sollte sogar den jüdischen Gott Jahwe ein düsteres Schicksal ereilen, denn er wurde, nach den Worten Louis Rougiers, „bekehrt, wurde Römer, Kosmopolit, zur Ökumene übergelaufener Nichtjude oder goyim, Globalbekenner und zuletzt gar - Antisemit."7 Es ist nicht verwunderlich, daß sich in den folgenden Jahrhunderten die christlichen Kirchen Europas schwertaten, ihre universalistische Berufung mit dem Aufstieg des nationalistischen Extremismus in Einklang zu bringen.

Obwohl das Christentum allmählich auch die letzten Spuren der römischen Vielgötterei beseitigte, setzte es sich doch selbst als Roms rechtmäßigen Erben ein. Und in der Tat kam es keineswegs zu einer vollständigen Verdrängung des Heidnischen durch das Christentum: Dieses ererbte von Rom viele Merkmale, die es vormals als antichristlich verachtet hatte. Mit den offiziellen heidnischen Kulthandlungen war es vorbei, der Geist des Heidentums jedoch ließ sich nicht bannen und trat jahrhundertelang immer wieder in verblüffenden Ausdrucksformen und vielgestaltigen Modeerscheinungen zutage - so in den Zeitaltern der Renaissance und der Romantik, vor dem Zweiten Weltkrieg und auch heute, da die christlichen Kirchen erkennen müssen, daß ihre verweltlichten Schafe ihren einsamen Hirten immer schneller davonlaufen. Schließlich scheint das Volksbrauchtum ein Paradebeispiel für das Weiterleben des Heidnischen darzustellen, obwohl es in den Gebräuchen der Offenen Stadt inzwischen meist nur noch als leicht verderbliche Ware des kulinarischen und touristischen Rummels dargeboten wird.8 Im Laufe der Jahrhunderte war das Volksbrauchtum stets den Wandlungen und Anpassungen, den Forderungen und Sachzwängen der jeweiligen Epoche unterworfen, und doch hat es seine Urform eines stammeseigenen Gründungsmythos immer beibehalten. So wie das Heidnische sich stets stärker auf dem Dorfe behauptete, so ist auch das Brauchtum in der Überlieferung der bäuerlichen Bevölkerung Europas durchweg am sichersten bewahrt worden.9 Im frühen neunzehnten Jahrhundert begann das Brauchtum in dem sich herausbildenden nationalen Bewußtsein der europäischen Völker eine entscheidende Rolle zuspielen, „in einer Gemeinschaft" also, „die sich um ihre arteigenen Ursprünge sorgte, und basierend auf einer Geschichte, die meist eher rekonstruiert denn real zu nennen ist".10

Der heidnische Gehalt war ausgeräumt, aber der heidnische Rahmen blieb im wesentlichen unverändert. Gehüllt in den Mantel und die Aura der christlichen Heiligen, schuf sich das Christentum sein eigenes Pantheon der Gottheiten. Darüber hinaus nahm selbst die Botschaft Christi - je nach Ort, Geschichtsepoche sowie dem genius loci jedes einzelnen europäischen Volkes - eine ganz spezifische Aussage für sich in Anspruch. In Portugal stellt sich der Katholizismus anders dar als in Mozambique, und Polens Landbevölkerung verehrt noch heute viele der alten slawischen Gottheiten, die sorgfältig in die römisch-katholische Liturgie eingewoben sind. Im ganzen heutigen Europa tritt immer wieder das nur scheinbar auslöschbare Gepräge des polytheistischen Glaubens an die Oberfläche. Das Begehen des Julfestes stellt eines der hervorstechendsten Beispiele für die Zählebigkeit heidnischer Relikte dar.11 Auch wurden zahlreiche einst heidnische Tempel und Kultstätten in sakrale Einrichtungen der katholischen Kirche umgewandelt. Lourdes in Frankreich, Medjurgorje in Kroatien, heilige Flüsse oder Berge - tragen sie nicht alle den Stempel des vorchristlichen, heidnischen Europa? Der Kult der Muttergöttin, dem einst die Kelten, besonders in Flußnähe, inbrünstig huldigten, hinterläßt noch heute seine Spuren in Frankreich, wo in der Nähe von Brunnen und Quellen viele kleine Kapellen errichtet wurden.12 Und können wir schließlich die Tatsache bestreiten, daß wir alle die intellektuellen Erben der heidnischen Griechen und Lateiner sind? Denker wie Virgil, Tacitus, Heraklit sind noch heute so modern, wie sie es in der Morgendämmerung der europäischen Kultur waren.

Es gibt reichlich Belege dafür, daß heidnisches Lebensgefühl in den Sozialwissenschaften, der Literatur und den Künsten hell erblühen kann, und das nicht nur als exotische Darstellungsform, sondern auch als geistiges Rüstzeug und als Instrumentarium der Begriffsanalyse. Wenn wir über die Wiederbelebung des indogermanischen Polytheismus sprechen, drängen sich zahlreiche Namen auf. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts traten heidnische Denker gewöhnlich in einer Maske auf, indem sie sich als „revolutionäre Konservative", „aristokratische Nihilisten" oder "Elitäre" bezeichneten, kurz, unter dem Namen all derer, die nicht Jesus durch Marx ersetzen wollten, die aber Marx und Jesus ablehnten.13 Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger in der Philosophie, Carl Gustav Jung in der Psychologie, Georges Dumezil und Mircea Eliade in der Anthropologie, Vilfredo Pareto und Oswald Spengler in der politischen Wissenschaft, ganz zu schweigen von Dutzenden Dichtern, wie Ezra Pound, Jack London oder Charles Baudelaire - dies sind nur einige der Namen, die zum Vermächtnis des heidnischen Konservatismus in einer engen Beziehung stehen. Ihnen allen gemeinsam war der Wille, das Erbe des christlichen Europa zu überwinden, und sie alle strebten danach, die Welt der vorchristlichen Kelten, Slawen und Germanen in das Repertoire ihres Geistes einzugliedern.

In dem von der biblischen Botschaft durch und durch erfüllten Zeitalter wurden viele der modernen heidnischen Denker wegen ihrer Kritik am biblischen Monotheismus angegriffen und entweder als verstockte Atheisten oder als geistige Bannerträger des Faschismus gebrandmarkt. Attackiert wurden insbesondere Nietzsche, Heidegger und erst unlängst der französische Philosoph Alain de Benoist, weil er angeblich einer Philosophie huldige, die an frühere nationalsozialistische Versuche einer Entchristianisierung Deutschlands und seiner Rückführung ins Heidentum erinnere.14 Diese Angriffe erscheinen unberechtigt. Jean Markale weist daraufhin, daß „es sich bei Nazismus und Stalinismus - wegen der von ihnen ausgelösten Handlungen - in gewissem Sinne ebenfalls um Religionen handelte. Sie waren auch insofern Religionen, als sie ein bestimmtes Evangelium - im etymologischen Wortsinne - beinhalteten... Demgegenüber tendiert wahres Heidentum immer in die Sphäre der Sublimation. Heidentum kann nicht im Dienste weltlicher Macht stehen."15 Das Heidentum erscheint mehr als eine Form des Lebensgefühls denn als ein vorgegebenes politisches Glaubensbekenntnis.

Fußnoten


  1. Charles Norris Cochrane, Chrisitanity and Classical Culture, University Press. York 1957. S. 254 a. 

  2. a. O., S. 329 

  3. T. R. Gloverr. The Conflict of Religion in the Early Roman Empire, Beacon Press, Boston 1909 u. 1960 

  4. S. 254 und passim 

  5. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, Nietzsches Werke, Verlag Das Bergland-Buch, Salzburg, Stuttgart 1952. S. 983, Abs. 21. 

  6. Pierre Gripari, L'histoire du méchant dieu. L'Age d'Homme. Lausanne 1987, S. 101-102. 

  7. a.a.O., S. 102. 

  8. Michel Marmin, "Les pièges du folklore, in; La cause des peuples, Edition Le Labyrinthe, Paris 1982, S. 39-44. 

  9. Nicole Belmont, Paroles païennes. Edition Imago, 1986, S. 160. 

  10. a. a. O., S. 161 

  11. Alain de Benoist, Noël. Les Cahiers européennes, Institut de documentations et d'Etudes européennes, Paris 1988. 

  12. Jean Markale, u. a.. „Mythes et lieux christianisées". L'Europe païenne, Seghers, Paris 1980. S. 133. 

  13. Bezüglich der europäischen Revolutionär- Konservativen siehe die Studie von Armin Möhler Die Konservative Revolution in Deutschland 1919- 1933, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972; ferner Tomislav Sunic. Against Dcmocracy and Equality: The European New Right, Peter Lang Publishing Inc., New York 1990. 

  14. Vgl. hierzu vor allem die Schriften von Alfred Rosenberg. Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Hohenzeichen Verlag, München 1933). Erwähnenswert ist ferner Wilhelm Hauer, Deutsche Gottschau. Karl Guctbrod, Stuttgart 1934, der bezeichnenderweise die indogermanische Mythologie in nationalsozialistischen Kreisen popülär machte. Siehe S. 240-254 des genannten Werkes, in denen Hauer den Unterschied zwischen jüdisch- christlich-semitischen Glaubensinhalten und dem europäischen Heidentum erläutert. 

  15. Jean Markale, „Aujourd'hui, l'esprit paien?", in L'Europe Paienne, Seghers. Paris 1980, S. 15. Das Werk enthält Betrachtungen über das slawische, keltische, lateinische und griechisch-römische Heidentum. 

„Marx, Moses und die Heiden in der Offenen Stadt“ (2) SLEIPNIR (Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik, Heft 3. Mai/Juni, 1995)

Zweitausend Jahre des jüdisch-christlichen Monotheismus haben der abendländischen Kultur ihren Stempel aufgedrückt. Angesichts dieser Tatsache sollte es nicht überraschen, daß eine Verherrlichung des Heidentums und Kritik an der Bibel und der jüdisch-christlichen Ethik, insbesondere wenn sie vom rechten Flügel des gesellschaftlichen Spektrums ausgehen, in der Offenen Stadt wahrscheinlich wenig Anklang finden. Es genügt ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft, wo Angriffe auf jüdisch-christliche Prinzipien häufig mit Argwohn betrachtet werden und wo die Bibel und der biblische Mythos von Gottes "auserwähltem Volk" noch eine bedeutsame Rolle in bezug auf das amerikanische Verfassungsdogma spielen.1 Obschon der Offenen Stadt die jüdisch-christliche Theologie heute gleichgültig geworden ist, weisen gleichwohl die aus der jüdisch-christlichen Ethik hergeleiteten Prinzipien, wie "Frieden", "Liebe" und "weltumfassende Brüderlichkeit", noch alle Anzeichen gesunder Vitalität auf. Viele liberale und sozialistische Theoretiker in der Offenen Stadt haben zwar einerseits den Glauben an die jüdisch-christliche Theologie aufgegeben, es aber andererseits nicht für klug gehalten, die von der Bibel gelehrte Ethik aufzugeben.

Wie immer man denken mag über die dem Begriff "europäisches Heidentum" anhaftende, scheinbar veraltete, bedrohliche oder gar abschätzige Bedeutungsnuance, es ist wichtig festzuhalten, daß diese Bedeutungsnuance weitgehend dem istorischen und politischen Einfluß des Christentums zuzuschreiben ist. Etymologisch stellt das Wort Paganismus2 (Heidentum) einen Sinnzusammenhang mit den Glaubensinhalten und Ritualen her, die in den Dörfern und ländlichen Gebieten heimisch waren. Aber Paganismus in seiner modernen Version kann auch ein bestimmtes Lebensgefühl und einen way of life ausdrücken, die mit dem jüdisch- christlichen Monotheismus unvereinbar bleiben. Bis zu einem gewissen Grade sind die europäischen Völker noch immer pagani geblieben, weil ihr nationales Gedächtnis, ihre geographische Verwurzelung und vor allem ihre volkliche Eingebundenheit, die oft Assoziationen zu überkommenen Mythen, Märchen und Brauchtumsformen herstellen, die eigentümlichen Merkmale vorchristlicher Themen aufweisen. Selbst der in moderner Zeit in Europa wiederauflebende Separatismus und Regionalismus scheint aus dem Urgrund heidnischer Restbestände zu wachsen. Die Diktatur der christlichen Ideologie hat, wie Markale bemerkt, "die altüberkommenen Bräuche nicht erstickt; sie hat sie lediglich in den Schattenbereich des Unterbewußten verbannt".3 Die Tatsache, daß ganz Europa heute von einer Welle des Nationalismus erfaßt wird, zeugt von der Beständigkeit des im Heidentum wurzelnden historischen Stammesgedächtnisses.

Mit der Konsolidierung des Christentums im europäischen Kulturraum begannen die polytheistischen Glaubensinhalte zu schwinden. In den nachfolgenden Jahrhunderten kam die europäische Systematik der Sinndeutung, sei es in der Theologie oder später in Soziologie, Politik oder Geschichte allmählich unter den Einfluß der jüdisch-christlichen Weltanschauung. In seinem Buch The New Polytheism4 bemerkt David Miller, daß durch den jüdisch-christlichen Monotheismus die Ausgangspositionen der Europäer sowohl in den Sozialwissenschaften, als auch in der geistigen Erfassung des Weltbildes schlechthin beträchtlich verschoben wurden.5 Wer kann uns angesichts dieser Verschiebungen noch unserer eigenen Objektivität versichern, zumal wenn wir versuchen, die heidnische Welt durch die Brille des postmodernen jüdisch-christlichen Menschen zu verstehen? Es ist kein Wunder, daß der Beseitigung des Heidentums in Europa die naturwissenschaftliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit beeinträchtigende Verwerfungen auf dem Fuß folgten. Mit der Konsolidierung des jüdisch-christlichen Glaubens wurden die Welt und die weltlichen Phänomene der Herrschaft starrer Begriffe und Kategorien unterworfen, die ihrerseits von der Logik des Entweder-Oder, Wahr-oder- Falsch, Gut-oder-Böse determiniert wurden und Zwischentönen nur selten Raum gaben. Es erhebt sich allerdings die Frage, ob in der Offenen Stadt - einer Stadt voller vielgestaltiger Optionen und komplexer sozialer Differenzen, die alle Denkschablonen verabscheut - diese Art des Denkansatzes denn noch wünschenswert ist. Es ist zweifelhaft, ob dieser jüdisch-christliche Monotheismus noch immer eine brauchbare Lösung für das Verständnis der immer komplexeren sozialen Wirklichkeit zu bieten hat, welcher der moderne Mensch der Offenen Stadt gegenübersteht. Ähnliche Verwerfungen verursachte auch der Export christlich-jüdischer Werte in die fernsten Winkel des Erdballes, wo er zu Ergebnissen führte, die den ursprünglich von den Europäern gehegten Absichten zuwiderliefen und unter den außereuropäischen Völkern Ausbrüche giftigen Hasses hervorriefen. Eine Reihe von Autoren hat recht überzeugend dargelegt, daß der christliche Ökumenismus, oft als "des weißen Mannes christliche Bürde" hochgelobt, eine führende Rolle bei der Ausbreitung des Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus in der Dritten Welt spielte.6

In der modernen Offenen Stadt hat der jahrhundertelange, durchdringende Einfluß des Christentums wesentlich zu der Ansicht beigetragen, jegliche Verherrlichung des Heidnischen oder auch nur nostalgische Rückbesinnung auf die griechisch-römische Ordnung sei absolut skurril oder bestenfalls mit der zeitgenössischen Gesellschaft unvereinbar. Erst kürzlich jedoch hat der katholische Philosoph Thomas Molnar, der einer kulturellen Wiederbelebung des Heidnischen offenbar aufgeschlossen gegenübersteht, daraufhingewiesen, daß die modernen Anhänger des Neuheidentums (Neopaganismus) ehrgeiziger seien als ihre Vorläufer. Molnar schreibt, das Ziel einer heidnischen Erneuerung müsse nicht die Rückkehr zur Anbetung antiker europäischer Gottheiten bedeuten, vielmehr käme darin das Bedürfnis zum Ausdruck, eine andere Kultur zu schaffen, oder besser noch, eine modernisierte Version des "wissenschaftlichen und kulturellen Hellenismus", der einst für alle europäischen Völker eine gemeinsame Bezugsgröße darstellte. Und mit offensichtlichem Wohlwollen für die polytheistischen Bestrebungen einiger moderner heidnischer Konservativer fügt Molnar hinzu: nicht um die Eroberung des Planeten geht es, sondern um das Auffinden eines Weges zur Förderung einer oikumena der Völker und Kulturen, die ihre Ursprünge neu entdeckt haben. Es darf vermutet werden, daß die Herrschaft nicht staatsgebundener Ideologien, namentlich des amerikanischen Liberalismus und des sowjetischen Sozialismus, dann zu Ende gehen würde. Dem Glauben an ein rehabilitiertes Heidentum liegt das Bestreben zugrunde, den Völkern ihre echte Identität, wie sie vor der monotheistischen Korrumpierung bestand, zurückzugeben.7

Eine so ehrliche Aussage eines Katholiken mag auch ein erhellendes Licht werfen auf die Desillusionierung unter den in ihren Offenen Städten lebenden Christen. Die von Wohlstand und Reichtum strotzende säkularisierte Welt scheint die der Menschenseele eigenen Bedürfnisse nicht abgetötet zu haben. Wie sonst wäre es zu erklären, daß Scharen junger Leute aus Europa und Amerika es vorziehen, sich zu den heidnischen indischen Aschrams aufzumachen, statt zu ihren eigenen, vom jüdisch-christlichen Monotheismus ins Zwielicht gerückten heiligen Orten zu pilgern?

Bemüht, die Legende von der heidnischen "Rückständigkeit" zu entkräften, und in dem Bestreben, ein europäisches Heidentum im Geiste der Moderne neu zu definieren, haben die zeitgenössischen Protagonisten des Heidentums große Anstrengungen unternommen, dessen Sinngehalt in ansprechenderer und wissenschaftlicherer Form zu präsentieren. Einer ihrer freimütigsten Vertreter, der französische Philosoph Alain de Benoist, faßt die moderne Sinngebung des Heidentums wie folgt zusammen: „Das Neuheidentum, wenn es so etwas wie Neuheidentum gibt, stellt sich nicht als das Phänomen einer Sekte dar, wie einige seiner Gegner, aber auch einige Gruppen und Clans, manchmal wohlmeinend, manchmal unbeholfen, oft komisch und gänzlich am Rande angesiedelt, sich einbilden... Was uns heute besorgt macht, zumindest hinsichtlich der Vorstellung, die wir von ihm haben, ist weniger das Verschwinden des Heidentums, als vielmehr seine Wiederauferstehung in primitiver und infantiler Form, anverwandelt jener "zweiten Religion", die Spengler mit gutem Grund als typisches Merkmal untergehender Kulturen beschrieb; Erscheinungen, von denen Julius Evola schreibt, daß sie "im allgemeinen einem Phänomen der Flucht, der Entfremdung und der konfusen Ersatzhandlungen ohne ernsthafte Rückwirkung auf die Realität entsprechen".8

Das Heidentum als eine Fülle bizarrer Kulte und Sekten ist nicht das, was moderne heidnische Denker sich darunter vorstellen. Schon vor einem Jahrhundert bemerkte der heidnische Philosoph Friedrich Nietzsche, daß eine Nation, deren Entartung und Entwurzelung schon zu weit fortgeschritten ist, ihre Energie in verschiedenen Formen orientalischer Kulte ausleben muß, und gleichzeitig "muß sich auch sein Gott verändern".9 Heute klingen Nietzsches Worte prophetischer denn je. Im Angesicht der Dekadenz und des grassierenden Hedonismus suchen die Massen der Offenen Stadt nach Stätten alternativer Zuflucht in der Umgebung indischer Gurus oder inmitten einer Heerschar orientalischer Propheten. Aber jenseits der abendländischen Schein-Transzendenz und hinter dem Selbsthaß des Abendländers, begleitet von infantiler Vernarrtheit in orientalische Talismanen, verbirgt sich mehr als nur eine vorübergehende Abstumpfung gegenüber dem christlichen Monotheismus. Wenn moderne Kultgemeinden sich der Entdeckung eines pervertierten Heidentums hingeben, so mögen sie durchaus auf der Suche nach jenem Geheiligten sein, das von dem herrschenden jüdisch-christlichen Diskurs in den Untergrund abgedrängt wurde.

Hat der Monotheismus, wie einige heidnische Denker offenbar unterstellen,10 in Europa eine fremdartige Anthropologie eingeführt, die für die Ausbreitung der egalitären Massengesellschaft und den Aufstieg des Totalitarismus verantwortlich ist? Einige Autoren stützen diese These mit dem Argument, daß die Wurzeln der Tyrannis nicht in Athen oder Sparta lägen, daß diese sich vielmehr in Jerusalem aufspüren ließen. In seinem Dialog mit Molnar, L'eclipse du sacré, erklärt Benoist, daß der Monotheismus die Idee der absoluten Wahrheit postuliere; er sei ein System, in dem der Feind mit dem Bösen assoziiert werde und in dem der Feind physisch zu vernichten sei, siehe z.B. Deuteronomium XIII. Kurzgefaßt, sagt de Benoist, der jüdisch-christliche Universalismus schuf vor zweitausend Jahren die Voraussetzungen für die Entstehung der modernen egalitären Verirrungen und ihrer modernen weltlichen Ableger, einschließlich des Kommunismus. Daß es "gottlose" totalitäre Regime gibt, ist offenkundig, als Beispiel diene die Sowjetunion.

Nichtsdestoweniger sind diese Regime die Erben christlichen

Denkens im Sinne jener Ausführungen, in denen Carl Schmitt nachwies, daß es sich bei der Mehrheit der modernen politischen Prinzipien um säkularisierte theologische Prinzipien handelt. Sie holen ein streng abgeschirmtes Gebäude auf den Boden der Weltlichkeit herab; die Seelenpolizei weicht der Staatspolizei; den Religionskriegen folgen ideologische Kriege.11

Ähnliche Ansichten wurden schon früher von dem Philosophen Louis Rougier sowie dem Politikwissenschaftler Vilfredo Pareto vertreten, die beide der "alten Garde" der heidnischen Denker angehören, deren philosophische Forschung auf die Rehabilitierung des europäischen politischen Polytheismus zielte. Sowohl Rougier als auch Pareto stimmen darin überein, daß der Judaismus und seine pervertierte Form, das Christentum, in das europäische konzeptionelle Rahmengefüge eine fremdartige Argumentationsform einführten, die das Wunschdenken, den Utopismus und die Fieberphantasien um ein statisches Zukunftsbild im Gefolge hatte.12 Ähnlich dem später auftretenden Marxismus muß der Christenglaube an den Egalitarismus einen gewaltigen Einfluß auf die darbenden Massen Nordafrikas und Roms ausgeübt haben, versprach er doch Gleichheit für die "Elenden dieser Erde", das odium generis humani und alle proles dieser Welt. In einem in seinem Buche Celsus contre les chrétiens enthaltenen Kommentar über die christlichen Urkommunisten erinnert Rougier an die Tatsache, daß das Christentum schon sehr früh unter den Einfluß sowohl des persischen Dualismus als auch der eschatologischen Visionen der jüdischen Apokalypse kam. Demgemäß ergaben sich die Juden und später die Christen dem Glauben, daß die Guten, die in der Gegenwart leiden, in der Zukunft belohnt werden. In der Offenen Stadt wurde eben dieses Thema später eingeflochten in die moderne sozialistische Doktrin, die das weltliche Paradies verhieß. "Zwei Reiche stehen nebeneinander im Räume," schreibt Rougier, "eines beherrscht von Gott und seinen Engeln, das andere von Satan und Belial."13

Die Folgen dieser weitestgehend dualistischen Weltvision schlugen sich im weiteren Verlaufe in der christlich-marxistischen Projektion des politischen Feindbildes nieder, in dem die Feinde immer unrecht hatten, die christlich-marxistische Haltung hingegen als richtig apostrophiert wurde. Für Rougier konnte griechisch-römische Intoleranz niemals an derart totale und absolute Ausmaße der religiösen Ausschließlichkeit

heranreichen: Die Intoleranz gegenüber Christen, Juden und anderen Sekten war sporadisch und richtete sich gegen ganz bestimmte religiöse Bräuche, die man als Verstöße gegen das römische Gewohnheitsrecht ansah (z.B. die Beschneidung, Menschenopfer, sexuelle und religiöse

Orgien).14 Indem sie die Verbindung zu ihren polytheistischen Wurzeln zerschnitten und sich dem Christentum zuwandten, begannen die Europäer, sich allmählich jene Weltsicht anzueignen, in der die Gleichheit der Seelen dominierte, verbunden mit der Forderung, Gottes Evangelium unter allen Völkern ohne Ansehen ihres Glaubens, ihrer Rasse oder Sprache zu verbreiten (Paulus; Galaterbrief, 3:28). In

den nachfolgenden Jahrhunderten durchdrang dieser periodisch

wiederkehrende Egalitarismus in säkularisierter Form das Bewußtsein zunächst des abendländischen Menschen und später dann der gesamten Menschheit.

Alain de Benoist schreibt: "Gemäß dem klassischen Ablauf des zyklischen Aufstiegs und Niedergangs hat das Egalitätsthema unsere Kultur durchdrungen vom Stadium des Mythos (Gleichheit vor Gott) bis zum Stadium der Ideologie (Gleichheit vor dem Volke), um danach überzugehen in das Stadium der "wissenschaftlichen Anmaßung" (der Gleichheitsbehauptung als Faktum). Kurz gesagt, vom Christentum zur Demokratie und danach zum Sozialismus und Marxismus. Der schwerwiegendste Vorwurf, den man überhaupt gegen das Christentum formulieren kann, ist, daß es diesen Egalitätszyklus einleitete, indem es in das europäische Denken eine revolutionäre Anthropologie mit universalistischem und totalitärem Charakter einführte."15

Man könnte sicherlich ins Feld führen, daß der jüdischchristliche Monotheismus so, wie er den Universalismus und Egalitarismus in sich birgt, auch die religiöse Ausschließlichkeit, die unmittelbar aus dem Glauben an die eine, unbestrittene Wahrheit folgt, für sich beansprucht. Die Konsequenz des christlichen Glaubens an die ontologische Einzigkeit, daß es nämlich nur einen Gott und daher auch nur eine Wahrheit gibt, hat natürlich über die Jahrhunderte hinweg die Christen in die Versuchung geführt, alle anderen Wahrheiten und Werte zu verwischen oder herunterzuspielen. Man kann argumentieren, daß, wenn eine bestimmte Sekte ihre Religion als den Schlüssel zur Lösung des im Universum verborgenen Rätsels verkündet und wenn diese Sekte darüber hinaus den Anspruch auf Universalität erhebt, der Glaube an die Gleichheit sowie die Unterdrückung aller menschlichen Ungleichheiten sich hieraus zwingend ergeben. Demgemäß konnte christliche Intoleranz gegen "Ungläubige" stets als legitime Antwort an diejenigen, die von dem Glauben an Jahwes Wahrheit abfielen, gerechtfertigt werden. So auch erklärt sich der christliche Begriff der "falschen Duldsamkeit" der Christen gegenüber anderen Glaubensbekenntnissen, ein Begriff, dessen Bedeutung besonders in der christlichen Haltung gegenüber den Juden erkennbar wird. Obgleich fast identisch in ihrer Anbetung des einen Gottes, konnten die Christen sich doch niemals ganz mit der Tatsache abfinden, daß sie damit auch die Gottheit derer verehren mußten, die sie von vorn herein als Volk der Gottesmörder verabscheuen mußten. Während ferner das Christentum stets eine universalistische, allen Erdenbürgern offenstehende Religion gewesen ist, ist der Judaismus eine ethnische, auf das Volk der Juden beschränkte Religion geblieben.16 Man könnte argumentieren, daß der Judaismus seinen eigenen Nationalismus sanktioniert, ganz im Gegensatz zum Nationalismus der Christen, der ständig die christlich-universalistischen Grundsätze Lügen straft. "Angesichts dieser Tatsache", schreibt de Benoist, "kann der christliche Antisemitismus mit gutem Grund als eine Neurose bezeichnet werden."17

Könnte es sein, daß das endgültige Verschwinden des Antisemitismus, wie auch des virulenten Volksgruppenhasses, erst durch den Verzicht auf den christlichen Universalitätsglauben ermöglicht würde?

Fußnoten


  1. Milton Konvitz: Judaism and the American Idea, Cornell University Press, Ithaca and London 1978, S. 71; Jerol S. Auerbach, "Liberalism and Other Hebrew Prophets" in Commentary, v: 84, nr. 2, August 1987, S. 58; vgl. hierzu auch Ben Zion Bokser: "Democratic Aspirations in Talmudic Judaism" in: Judaism and Human Rights, hrsg. von Milton Konvitz, W. W. Norton and Co. Inc., New York 1972. Auf S. 146 schreibt Bokser: "Der Talmud schrieb vor, daß jedermann, dem eine esetzesübertretung vorgeworfen wird, ein faires Gerichtsverfahren zuteil werden muß und daß vor dem Gesetz alle Menschen, ob König oder Bettelmann, streng gleichberechtigt sein müssen." Dazu auch Ernst Tröltsch: "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen", Aalen 1922, bzw. Scientia Verlag, 1965, S. 768: 'Naturrechtlicher und liberaler Charakter des freikirchlichen Neucalvinismus", S. 762-772, bzw. Georg Jellinek: "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte", Duncker und Humblot, Leipzig 1904. Auf S. 46 schreibt Jellinek, daß die Idee, die unveräußerlichen, angeborenen und geheiligten Rechte des Individuums gesetzlich zu verankern, nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs sei. Ferner Werner Sombart: "Die Juden und das Wirtschaftsleben", Verlag Duncker und Humblot, Leipzig: 1911. Auf S. 44 schreibt Sombart: "was wir Amerikanismus nennen, ist ja zu einem sehr großen Teile geronnener Judengeist". 

  2. Das im Englischen gebräuchliche "paganism" - "Heidentum" stammt vom lateinischen "paganus" - "ländlich", bzw. "pagus" - "Dorf(gemeinde)" ab; Anm. d. U. 

  3. Jean Markale: "Aujourd'hui, l'esprit paien?", in: L'Europe Paiènne, Seghers, Paris 1980, S. 16. Das Werk enthält Betrachtungen über das slawische, keltische, lateinische und griechisch-römische Heidentum 

  4. David Miller: The New Polytheism, Harper and Row, New York 1974. 

  5. ebenda S. 7 u. passim 

  6. Serge Latouche: L'occidentalisation du monde, La Découverte, Paris 1988. 

  7. Thomas Molnar: La tentation paiènne, Contrepoint vom 15. Juni 1981, S. 53 

  8. Alain de Benoist: Comment peut-on être paien?, Albin Michel, Paris 1981, S. 25 

  9. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Verlag Das Bergland- Buch, Salzburg, Stuttgart 1952, S. 979 

  10. Alain de Benoist: L'eclipse du sacré, La Table ronde, Paris 1986; insbes. der Abschnitt "De la sécularisation", S. 198-207 

  11. Ebenda S. 233; dazu ferner Carl Schmitt in: Die politische Theologie, Dunker und Humblot, München und Leipzig 1922, S. 35-46. Schmitt schreibt auf S. 36, daß "alle namhaften Konzeptionen in der modernen politischen Wissenschaft säkularisierte theologische Konzeptionen" darstellen. 

  12. Gerard Walter: "Les sources judaiques de la doctrine communiste chrétienne" in: Les origines du communisme, Payot, Parisl931), S. 13-65; vgl. hierzu Vilfredo Pareto: "Les systèmes métaphysiques-communistes", in: Les systèmes socialistes, Marcel Girard, Paris 1926, S. 2-45, und Louis Rougier: "Le judaisme et la Révolution sociale", in: La mystique démocratique, op.cit., S. 184-187 

  13. Louis Rougier: Celsus contre les chrétiens, Copernic, Paris 1977, S. 67; ferner Sanford Lakoff: "Christianity and Equality", in J. Roland Pennock und John W. Chapaman (Hrsg.): Equality, Atherton Press, New York 1967, S. 128-130 

  14. a.a.O, S. 89 

  15. Alain de Benoist, "L'Eglise, L'Europe et le Sacré" in: Pour une renaissance culturelle, Copernic, Paris 1979, S. 202 

  16. Louis Rougier, Celse, S. 88. 

  17. Alain de Benoist, Comment-peut on être paien?, S. 170